von Christian Beck
Herr Strehle, beim Qualitätsmonitoring 2020 sind neu Produktionsfehler aufgefallen. Arbeiten die Tamedia-Redaktionen zu schludrig?
Nein, keineswegs. Das war ein sehr anspruchsvolles Jahr mit der Umstellung auf «Mobile First», Kurzarbeit und Lockdown. Da habe ich schon Verständnis, wenn mal was schiefgehen kann.
Machen Sie bitte ein Beispiel: Welcher Produktionsfehler sorgte bei Ihnen persönlich dennoch für Kopfschütteln?
Den Kopf schüttle ich selten, ich würde eher von Irritation sprechen: Zum Beispiel bei einem Widerspruch zwischen Titel und Bild wie beim Beitrag über schlechte Arbeitsbedingungen für das Hauspersonal in Gstaad. Titel «Die Hölle von Gstaad», darunter ein wunderschönes Winterbild. Oder «hitzige Debatte» in der Legende zu einem Bild, das gelangweilte Parlamentarier zeigt.
Wurden nicht einfach mehr Fehler gefunden, weil zum ersten Mal die Dauer der Untersuchungsperiode auf eine Woche ausgeweitet wurde?
Ich glaube nicht, dass wir deshalb weniger sorgfältig vorgingen.
Aber was erhofften Sie sich durch diese Ausweitung der Untersuchungsperiode?
Wenn wir bei den Newsmedien nur zwei bis drei Stichtage auswählten wie früher, war die Möglichkeit grösser, dass eine sehr gute oder sehr schlechte Nachrichtenlage das Ergebnis zufällig beeinflusste.
«Das war ein anderes Denken als heute»
«Mobile first» fällt noch nicht allen Redaktionen leicht. So schaffte es das Jubiläum einer Nagelfabrik beim Landboten zum Aufmacher. Warum ist das eine Folge von «Mobile first»?
Beim Prinzip «Mobile First» wechseln die Aufmacher im hohen Rhythmus. Da ist es für eine kleinere Lokalredaktion sehr anspruchsvoll, bei jedem Aufmacher die Relevanz zu wahren.
Am meisten zu reden gab das Storytelling. Was läuft hier falsch?
Falsch läuft nichts, aber viele Kolleginnen und Kollegen sind wie ich mit der gedruckten Zeitung in den Beruf eingestiegen. Das war ein anderes Denken als heute. Oft erzählen wir dann eine Geschichte linear in Textform, womöglich auch alles aufs Mal – die digitalen Kanäle bieten inzwischen aber ganz andere, vielfältigere Möglichkeiten.
Aufgeweicht durch das Prinzip «Mobile first» wurde der Trennungsgrundsatz zwischen Fakten und Wertung respektive Meinung. Warum das?
Ich merke es bei mir selber unter Zeitdruck: Als Autor ist man oft versucht, in einem Newsbeitrag unterschwellig mitzukommentieren. Wenn mehr Zeit bleibt, vielleicht eine Kollegin oder ein Kollege kommentiert, dann überlegt man sich diese Trennung besser.
Gelitten hat im Untersuchungszeitraum auch die kreative Sprache. Ist auch dies eine Folge der neuen Produktionsweise?
Nein, das haben einzelne Experten generell festgestellt. Vielleicht bin ich da mitschuldig: Wir haben früher die Bilderflut im Journalismus kritisiert, oft waren darunter abgedroschene Metaphern wie «grünes Licht» oder «das Handtuch werfen». Jetzt sind diese Bilder seltener geworden, Bericht und Meinung getrennt – da wird es vielleicht zwangsläufig etwas trockener.
«Die witzigen oder gar ironischen Formate gehören im Journalismus zu den schwierigsten Formen»
«Geschmunzelt oder gar gelacht werden darf eher wenig», stellt der am Donnerstag veröffentlichte Tamedia-Qualitätsreport 2020 fest. Wo ist der Humor auf der Strecke geblieben?
Die witzigen oder gar ironischen Formate gehören im Journalismus zu den schwierigsten Formen, diese Erfahrungen machen nicht nur unsere Redaktionen. Also verzichtet man vielleicht eher darauf. Es gibt aber viele Lichtblicke, die leichteren Kolumnen der Berner Medien, der Unterhaltungsteil im «Matin Dimanche», die «Schlagzeiten» und Peter Schneider in der SonntagsZeitung und der Tamedia-Fussball-Podcast «Dritte Halbzeit» – da bin ich als Zuhörer geradezu Fan, wie sich der Humor aus verschiedenen Regionen mit Analyse kombiniert.
Hatten die Medienschaffenden nicht einfach prinzipiell wenig zu lachen im Coronajahr 2020?
2020 war auch für die Medienschaffenden zweifellos ein ganz schwieriges Jahr – umso wichtiger ist es, dass uns der Humor nicht ausgeht.
Welche Spuren hinterliessen Homeoffice und Kurzarbeit an den Tamedia-Produkten?
Erstaunlich wenige. Ich habe als Leser nicht den Eindruck, dass weniger als früher diskutiert wird. Dazu steht als Kontrast das Bild der leeren Redaktionsräume. Die neuen Kanäle eröffnen eine andere, vielleicht konzentriertere Form der Diskussion. Was zu kurz kommt, ist sicher der informelle Austausch an der Kaffeemaschine oder in Kantine und Bar.
Nach der Neuorganisation zur TX Group fokussierten Sie sich beim Qualitätsmonitoring auf die Bezahlmedien. Gäbe es nicht gerade auch bei 20 Minuten einiges zu bemängeln?
Die Gruppe mit 20 Minuten und L'Essentiel hat in diesem Jahr erstmals ein eigenes Qualitätsmonitoring eingerichtet unter Leitung des Luxemburger Verlegers Alvin Sold.
«Vinzenz Wyss gehört zu unseren kritischsten Experten»
Gehen wir noch kurz auf einzelne der untersuchten Titel ein. Felix E. Müller, Ex-Chefredaktor der NZZ am Sonntag, widmete sich dem Tages-Anzeiger. Sein Fazit?
Felix E. Müller beurteilte die Arbeit der Tages-Anzeiger-Redaktion insgesamt als positiv, speziell den Recherche-Ansatz, den die Redaktion pflegt. Wo er kritisierte, ging es um die erwähnten Produktionsfehler, vereinzelte Gewichtungen und die teilweise etwas schlichte Sprache.
Medienwissenschaftler Otfried Jarren widmete sich dem Magazin …
Das «Magazin» kommt in allen Qualitätsuntersuchungen sehr gut weg, das sieht auch Otfried Jarren so. Während des ersten Lockdowns im Frühjahr waren wir beide sehr davon angetan, wie das Corona-Thema zwar präsent war, aber ein deutliches Kontrastprogramm zu den News-Medien präsentiert wurde mit starken eigenen Zugängen. Und ja, auch mit Humor. Wenn wir da einen Wunsch offen haben, dann den, dass die Interaktion mit den Leserinnen und Lesern noch ausgebaut werden könnte.
Und nehmen wir noch Vinzenz Wyss: Der Professor für Journalistik untersuchte die Regionalzeitungen. Was, ausser dem Nagelfabrik-Fail, fiel ihm sonst noch auf?
Vinzenz Wyss gehört zu unseren kritischsten Experten, das schätzen wir an ihm speziell. Er ist dezidiert der Meinung, dass die Lokalmedien bei der Vielfalt des Storytellings zulegen müssen und folglich schon vor einem Beitrag mehr Zeit für die Frage verwenden sollten, wie man eine Geschichte am besten erzählt.
Das ist bereits die vierte vertiefte Untersuchung seit 2017. Wurde die Qualität insgesamt besser oder schlechter?
Wenn ich das so pauschal beurteilen müsste, würde ich sagen: Handwerklich besser, Tempo höher, Recherche gut, Interaktion ausbaufähig.
Was wünschen Sie sich für die nächste Untersuchung im laufenden Jahr? Welches Fazit möchten Sie ziehen können?
Eine ideale Mischung aus Relevanz und leichteren, witzigeren Zugängen, virtuos geschrieben oder multimedial kreativ aufbereitet mit grossem Echo in der Leserschaft, die sich auch nicht mehr hinter Pseudonymen versteckt.
Kommentare
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Robert Tobler, 12.03.2021 13:33 Uhr
Zu den handwerklichen Fehlern gehört in erster Linie die oftmals deutschfehlerbeladene Sprache des Tages-Anzeigers online.