18.07.2019

NZZ

«Ich plädiere immer für eine offene Diskussion»

Chefredaktor Eric Gujer nimmt Stellung zum Vorwurf der AfD-Nähe. Er kündigt an, dass die «Neue Zürcher Zeitung» bald wieder eine allgemeine Kommentarfunktion haben wird.
NZZ: «Ich plädiere immer für eine offene Diskussion»
Eric Gujer ist seit März 2015 Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung». (Bild: nzzmediengruppe.ch)

Herr Gujer, ein Artikel von NZZ-Wirtschaftskorrespondent Michael Rasch sorgte in den vergangenen Tagen für Aufsehen. Für Hans-Georg Maassen, den ehemaligen Chef des deutschen Inlandgeheimdienstes, sei die NZZ dadurch «so etwas wie Westfernsehen» geworden. Ist dies für Sie ein Kompliment?
Der Begriff «Westfernsehen» kursiert schon seit längerem, nicht erst seit Maassens Tweet. Ich habe den Begriff nie benutzt, weil er ja impliziert, dass die deutschen Medien «Ostfernsehen» sind. Ich war der letzte DDR-Korrespondent der NZZ und weiss daher aus eigener Anschauung, was die Medien im SED-Staat geschrieben und gesendet haben. Da verbietet sich jeder Vergleich. Umgekehrt habe ich viel zu viel Achtung vor der Leistung vieler Ostdeutscher in der Wendezeit und danach, als dass ich die schwierigen und manchmal bedrohlichen Lebensumstände im Kommunismus mit der Lektüre der NZZ gleichsetzen würde. Die Lektüre der NZZ erfordert nur intellektuelle Neugier und die Bereitschaft, sich einem klar formulierten Standpunkt auszusetzen. Man sollte meinen, das sei nicht so schwierig.

Haben Sie die Reaktionen auf diesen Artikel überrascht? Kritisiert wurde vor allem der Begriff «Bio-Deutscher», der in einer späteren Fassung gelöscht wurde.
Der Duden definiert das Wort «Bio-Deutscher» neutral: mit deutscher Herkunft und in Deutschland lebend. Überdies sind Deutsche ohne Migrationshintergrund in vielen Städten in der Minderheit. Soweit die Fakten. Dennoch haben wir den Begriff aus dem nur online erschienenen Artikel entfernt, denn Fakten sind nicht alles. Wir bedauern, dass der Begriff im Kontext des hoch kontroversen Themas Migration zu Missverständnissen geführt und wirklich nicht beabsichtigte Emotionen geweckt hat. Niemand sollte sich an einem einzelnen Wort festbeissen, auch die NZZ nicht. Ich plädiere immer für eine offene Diskussion, und diese müssen wir natürlich auch und gerade mit unseren Lesern und Leserinnen führen. So steigern wir unsere Glaubwürdigkeit. Deshalb ist es mir auch sehr wichtig, dass wir so bald wie möglich wieder eine allgemeine Kommentarfunktion haben.

Sie führen also bei allen Texten die Kommentarfunktion wieder ein?
Gegenwärtig bieten wir ja nur moderierte Leserdebatten an, weil der Aufwand zu hoch wurde, nicht angemessene Kommentare zu entfernen. Wir hoffen, diesen Filterprozess automatisieren zu können. Ich werde Sie gerne über die Fortschritte dieses Projektes informieren.

«Wir müssen mit Kritik von beiden Seiten leben»

Verschiedene Medien warfen Ihnen AfD-Nähe vor. Stört Sie dies oder ist dies ein Indiz für eine aufgeheizte Diskussion?
Kürzlich kritisierte ein Kommentar der NZZ die enthemmte Sprache der AfD. Der Autor stellte das in den Zusammenhang des mutmasslich von einem Neonazi verübten Mordes an einem deutschen Politiker und fragte, inwieweit die Sprache der AfD rechtsextremer Gewalt Vorschub leistet. Das provozierte einen Shitstorm bei AfD-Anhängern. Die NZZ vertritt eine bürgerlich-liberale Position und ist gegenüber rechts wie links gleichermassen kritisch. Wir müssen deshalb mit Kritik von beiden Seiten leben.

Gab es auch schon Reaktionen aus dem Kanzleramt auf die NZZ-Berichterstattung?
Die NZZ ist schon seit langem in Deutschland präsent, und natürlich gibt es Reaktionen aus der Politik. Wir haben in der Bundesrepublik treue und aufmerksame Leser. So existiert eine Fotografie von Konrad Adenauer, wie er im Lehnstuhl sitzend die NZZ liest. Man hat also schon immer in Deutschland genau registriert, was wir schreiben. Wir sind zugleich das einzige Schweizer Medium, das in Deutschland wirklich Gehör findet und als Teil des deutschen Diskurses wahrgenommen wird. Als Peer Steinbrück die deutsche Kavallerie in die Schweiz schicken wollte, waren es die Kommentare der NZZ, die in Berlin gelesen wurden.

Sie gelten als sehr guter Kenner von Deutschland. Was zeigt Ihnen diese Diskussion? Darf man als Medium nicht mehr alles schreiben?
Man darf im Rahmen der geltenden Gesetze alles schreiben – alles andere wäre Zensur oder Selbstzensur. Da müssen wir als Journalisten die Medienfreiheit verteidigen. Gleichzeitig sehe ich, dass sich die Öffentlichkeit in Deutschland verändert. Die Polarisierung hat in den letzten Jahren massiv zugenommen und damit die Neigung, nur noch die eigene Meinung gelten zu lassen. Die einen rufen «Lügenpresse», die anderen nur noch «Rechte» oder «Nazis». Beide Seiten verhalten sich wie verfeindete Stämme, die dem anderen Stamm das Existenzrecht absprechen. Fakten zählen nicht, nur die eigene Meinung. Beide Seiten treten zudem moralisierend auf. Je gesichtsloser und blasser die grosse Koalition wirkt, umso stärker wird seltsamerweise der Meinungsstreit in der Gesellschaft.

Was bedeutet das?
In diesem Klima hat es eine offene Debatte natürlich schwer. Das ist schädlich für die Demokratie, die wenigstens in der Theorie vom offenen Austausch lebt. In der direkten Demokratie der Schweiz wäre das verheerend. Hier sehen wir die Diskursverweigerung auch nicht so wie in Deutschland. Gegenwärtig funktioniert die politische Öffentlichkeit in beiden Ländern sehr unterschiedlich.

«Wir haben gegenwärtig rund 14'000 Abonnenten in Deutschland»

Die NZZ hat unter Ihrer Leitung die Deutschland-Berichterstattung ausgebaut. Hat dies auch Auswirkungen auf die Abo- und Leserzahlen?
Wir haben gegenwärtig rund 14'000 Abonnenten in Deutschland. Gleichzeitig erfolgt ein Drittel der Besuche auf nzz.ch von Lesern und Leserinnen aus Deutschland. Es gibt also offenkundig in unserem nördlichen Nachbarland eine Nachfrage nach dem anderen Blick aus dem Süden. Als eine der wenigen Schweizer Medienhäuser verliert die NZZ bei ihren Zeitungen nicht Abonnenten, sondern gewinnt neue hinzu. Im Augenblick sind es insgesamt rund 158 000. Letzten Monat waren es noch 600 weniger.

Haben Sie weitere Ausbauschritte für die deutsche Leserschaft geplant?
Wir bieten für unsere deutschen Leserinnen und Leser auf nzz.ch eine deutsche «Länderausgabe» an, also eine eigene Homepage. Hier liegt der Fokus auf deutschen und internationalen Themen, weniger auf schweizerischen. Das wollen wir natürlich ausbauen, aber mit Augenmass. Wir haben die Lehren aus dem gescheiterten Experiment in Österreich gezogen und sind mit einem deutlich kleineren Team und einem geringeren Ressourceneinsatz unterwegs. Lieber langsam, aber stetig wachsen.

 


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