28.12.2024

Das war 2024

«Ich will kritischen Journalismus fördern»

Susan Boos schaut mit gemischten Gefühlen auf 2024 zurück. Zum einen sieht die Präsidentin des Presserats eine dramatische Erosion der Vielfalt in den Regionen. Zum anderen stellt sie weiterhin eine hohe Qualität im Journalismus fest. Gerade der Presserat könne dazu beitragen, das Niveau weiterhin hochzuhalten, sagt Boos im Gespräch mit persoenlich.com.
Das war 2024: «Ich will kritischen Journalismus fördern»
Seit 2021 Präsidentin des Presserats, vorher Reaktionsleiterin der Wochenzeitung WOZ: Susan Boos. (Bild: Keystone/Gaëtan Bally)

Susan Boos, 2024 war für die Medienbranche ein «Annus horribilis»; Stellenabbau folgte auf Stellenabbau. Was passiert da gerade?
Wenn die Branche so massiv schrumpft, dann schrumpft auch der Boden für die Meinungsbildung. Bei allen Fehlern, die wir machen: Je mehr Leute mitdenken, desto höher ist die Qualität der Informationen.

Wie nehmen Sie diesen Abbau konkret wahr?
In gewissen Regionen kommen Themen einfach nicht mehr vor, die relevant und von nationaler Bedeutung sind.

Kennen Sie ein konkretes Beispiel?
(Zögert.) Jetzt gebe ich einen Primeur preis. Folgendes: In der Schweiz gibt es ein Problem mit den Verwahrten. Die befinden sich in normalen Justizvollzugsanstalten, auch wenn sie ihre Strafe abgesessen haben. Gerade für ältere Verwahrte sollte man eigentlich eine andere Lösung finden. Nun gibt es im Zürcher Oberland ein Altersheim, das Verwahrte aufnimmt. Mitte Jahr hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter einen Bericht veröffentlicht nach einem Besuch dieses Altersheims. Und der Befund ist fatal. Die Bedingungen in der Verwahrtenabteilung seien nicht menschenrechtskonform, konstatiert die Kommission

Darüber hat niemand berichtet?
In der Schweizerischen Mediendatenbank habe ich keinen einzigen Artikel gefunden zum Bericht der Kommission.

Früher wäre das nicht passiert?
Der Landbote aus Winterthur versuchte früher alle Aktualität in seinem Einzugsgebiet abzudecken, dazu gehört dieser Teil des Zürcher Oberlands. Ich behaupte nicht, dass der Journalismus schlechter geworden ist. Aber es sind einfach viel weniger Leute. Das heisst auch, dass weniger Themen wahrgenommen werden. Das ist ein grosses Problem.

«Ich will niemandem einen Vorwurf machen. Aber das ist ein Problem»

Sie sehen den Abbau vor allem im Regionalen?
Dort sind die Auswirkungen am stärksten spürbar. Die Themenvielfalt ist radikal eingebrochen, wirklich radikal! Ich komme aus St. Gallen. Das St. Galler Tagblatt versucht immer noch, guten Journalismus zu machen. Für nationale und internationale Themen ist die Redaktion nicht mehr zuständig. Das liefert die CH-Media-Redaktion aus Aarau. Damit ist kein Dossier-Wissen mehr vorhanden zu nationalen Themen und allem, was auf Bundesebene geregelt wird. Wer dazu doch noch schreibt, muss sich dann quasi in der Freizeit damit beschäftigen. Gleichzeitig gibt es aber weiterhin Politikerinnen und Politiker aus der Region, die im Bundeshaus sitzen. Da sollte auch eine Regionalredaktion beurteilen können, was die für Arbeit leisten in Bern. Darüber berichtet nun vorwiegend die Zentralredaktion aus Aarauer Sicht. Ich will niemandem einen Vorwurf machen. Aber das ist ein Problem.

Dreht hier eine unaufhaltsame Abwärtsspirale?
Das glaube ich nicht. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass wir uns in einem ähnlichen Konzentrationsprozess befinden wie anno dazumal beim Bier. Es gab ja eine Zeit, als es nur noch ein paar wenige Marken gab. Das war kulinarisch ein Desaster. Dann hat man irgendwann begriffen, dass man mit lokal gebrautem Bier überleben kann. Eine solche Entwicklung wäre auch für die regionalen Medien zu wünschen. Ich weiss aber nicht, ob das ohne Förderung geht.

Das Problem ist also die abnehmende Vielfalt und weniger die gebotene Qualität?
Handwerklich machen die Leute, die im Journalismus verblieben sind, ihre Arbeit weiterhin mit grosser Leidenschaft und sie machen sie auch gut.

Zeigt sich das auch an den Beschwerden an den Presserat, dass die Qualität nicht erodiert?
Wir sind jetzt wieder auf etwa 120 Beschwerden im laufenden Jahr. Nach dem Corona-Peak 2021 mit gegen 200 Beschwerden gab es zuerst einen Rückgang und nun scheint sich das Volumen auf hohem Niveau einzupendeln.

«Zwei Drittel der Beschwerden heisst der Presserat nicht gut»

Wie entwickelt sich das Verhältnis der gutgeheissenen und abgelehnten Beschwerden?
Das ist konstant. Etwa ein Drittel heisst der Presserat teilweise oder vollumfänglich gut. Zwei Drittel der Beschwerden heissen wir nicht gut oder treten gar nicht erst darauf ein. Dieses Verhältnis ist schon sehr lange so. Warum das so ist, weiss ich nicht.

Wer wendet sich mit einer Beschwerde an den Presserat?
Das sind wirklich Herr Hinz oder Frau Kunz, daneben aber auch Leute oder Organisationen, die von der Berichterstattung selbst betroffen und damit nicht zufrieden sind. Solche Beschwerden nehmen wir doppelt ernst, indem wir sie genau anschauen, auch wenn wir im ersten Reflex das Gefühl haben, sie seien unbegründet. Es gibt aber auch jene, die einfach auf Fehlersuche sind. Insgesamt wünschte ich mir etwas bessere Beschwerden.

In den letzten Jahren gab es ein paar «Sammelbeschwerden», für die Unterschriften gesammelt wurden. Haben die ein grösseres Gewicht?
Das war kurz mal ein Phänomen. Es gab zwei oder drei solche Sammelbeschwerden. Aber uns kümmert das nicht. In diesem Jahr hatten wir gar keine mehr erhalten. Im ersten Moment denkt man natürlich schon, oh Schluck. Eine dieser Unterschriftensammlungen hatten Journalist:innen lanciert. Da mussten wir gleich einen doppelten Schritt zurück machen und sagen: Hey, das interessiert uns gar nicht, wer da alles unterschrieben hat, wir schauen einfach den Inhalt der Beschwerde an wie bei jeder anderen auch.

Ob man sich an den Presserat wendet, bedingt zuerst einmal, dass man ihn kennt und für glaubwürdig hält. Was erhalten Sie für Rückmeldungen zu Bekanntheit und Image?
Als ich angefangen habe, hörte ich immer wieder, der Presserat gelte als politisch links. Das höre ich inzwischen überhaupt nicht mehr. Auch nicht von den Chefredaktoren.

Wie erklären Sie sich das?
Es war eine meiner ersten Aufgaben, mich mit den Chefredaktoren auszutauschen, herauszufinden, was das Problem ist. Sie haben ein paar Punkte vorgebracht, bei denen ich sagen musste: Es ist interessant, dass sie den Presserat so wahrnehmen. Sie hatten den Presserat immer als Institution wahrgenommen, die Journalisten abstraft. Ihr zentrales Anliegen war, dass der Presserat nicht nur Medienschaffende kritisiert, sondern auch die Medienfreiheit verteidigt. Das sehe ich genauso. Wenn wir nur auf die Fehler fokussieren, die Journalistinnen oder Journalisten machen, beschädigen wir unfreiwillig den Ruf des Journalismus.

«Je kritischer der Journalismus ist, desto fairer muss er sein»

Worin sehen Sie Ihre Aufgabe als Präsidentin des Presserats?
Ich will kritischen Journalismus fördern. Und je kritischer er ist, desto fairer muss er sein. Umso wichtiger sind die Regeln, um herauszufinden, was noch drin liegt und wo die Grenzen sind. Da hat der Presserat auch sein Selbstverständnis etwas angepasst. Ich sehe mich vor allem in der Pflicht der Journalistinnen und Journalisten sowie der Medienethik. Wir sind dazu da, um dem journalistischen Handwerk sinnvolle Leitplanken zu setzen. Wenn jemand vor einer heiklen Recherche steht, soll unsere Arbeit dazu beitragen, dass sie oder er weiss, was noch möglich ist, und wo man sich zurückhalten muss.

Wird dieses Selbstverständnis in der Branche geschätzt?
Ich empfinde den Austausch mit den Chefredaktoren inzwischen als sehr produktiv. Sie laden mich regelmässig an ihre Sitzungen ein. Dann gibt es auch Kritik, aber ich kann erklären, wie unsere Stellungnahmen zustande kommen.

Gibt es Redaktionen, die sich der Zusammenarbeit komplett verweigern?
Die Weltwoche und der Nebelspalter nehmen nicht Stellung zu Beschwerden, die sie betreffen, und veröffentlichen auch die Stellungnahmen nicht. Das finde ich schade. Wir sind ja per definitionem nicht politisch. Die Regeln der Fairness haben nichts mit einer politischen Position zu tun.

Wer heute eine Beschwerde einreicht, muss in der Regel ein Jahr warten, bis der Presserat Stellung nimmt. Lässt sich diese Frist verkürzen?
Ein Jahr ist lang. Es gäbe schon Möglichkeiten, die Behandlungsfristen zu verkürzen. Ein Weg wäre es, dass nur noch von der Berichterstattung Betroffene Beschwerden einreichen dürfen. Ich habe das schon mal mit den Chefredaktorinnen und Chefredaktoren diskutiert. Das ist jetzt nicht unbedingt ihre Wunschvariante. Kommt dazu, dass Jedermannsbeschwerden auch eine Ventilfunktion haben. Eine andere Variante wäre es, dass erst zu uns kommen darf, wer mit seiner Beschwerde zuerst an die Redaktion oder an die Ombudsstelle der betreffenden Redaktion gelangt war.

«Wir müssen sorgsam überlegen, was wir machen, um den Aufwand zu reduzieren»

Schneller ginge es auch, wenn gewisse Beschwerden in einem abgekürzten Verfahren behandelt würden. Warum geht das nicht?
Daran haben wir auch schon herumgedacht. Vor einigen Jahren erhielt die Geschäftsführerin mehr Kompetenzen und konnte Nichteintretensentscheide im Alleingang fällen. Das ging aber total ins Auge. Die Geschäftsstelle war total exponiert und erhielt von Beschwerdeführern Hassbotschaften. Darum haben wir damit wieder aufgehört. Wir müssen sorgsam überlegen, was wir machen, um den Aufwand zu reduzieren.

Der Presserat hat 2024 von verschiedenen Stiftungen 300’000 Franken erhalten. Hilft das bei der Bewältigung der Arbeitslast?
Nicht direkt. Der Betrag soll helfen, ein tragfähiges Finanzierungsmodell zu entwickeln, weil die Zuwendungen der Branchenorganisationen, die den Presserat tragen – Verlage und Gewerkschaften – auch nicht grösser werden.

Einen Einfluss auf die Arbeitslast des Presserats hat auch sein Zuständigkeitsbereich. Da geht es um die Frage, was ist Journalismus und was ist kein Journalismus, um den ihr euch gar nicht erst kümmert. Wie relevant ist diese Abgrenzung im Alltag des Presserats?
Es gab schon einzelne Beschwerden, bei denen wir uns die Frage stellten, ob das Journalismus ist und ob wir uns dazu überhaupt äussern. Konkret ging es um das Magazin Zeitpunkt, das für sich reklamiert, Journalismus zu machen. Wir haben dann diese Beschwerde behandelt. Gleichzeitig stellten wir uns die Frage, ob wir mit der Behandlung solcher Beschwerden auch Publikationen adeln, die sich im Grenzbereich des Journalismus bewegen. Im Moment bin ich sehr froh, dass wir auf die Selbstdeklaration abstützen können und Beschwerden behandeln, sofern es sich um Publikationen handelt, die sich selbst als journalistisches Medium verstehen.

Wie sieht es bei Migros-Magazin und Coop-Zeitung aus? Ist das schon PR oder noch Journalismus?
Ganz lange war das klar Journalismus. Inzwischen ist das insbesondere beim Migros-Magazin nicht mehr so klar. Früher gab es dort eine unabhängige Redaktion. Heute findet bei diesem Magazin immer mehr eine Vermischung von PR und redaktionellem Teil statt. Das ist höchst problematisch. Wir führen deshalb die Diskussion, wie wir diese Publikation behandeln sollen. Gut möglich, dass wir irgendwann zum Schluss kommen, allfällige Beschwerden gegen das Migros-Magazin nicht mehr zu behandeln, weil es nur noch ein Marketinginstrument ist.

«Bei uns ist es noch nicht so dramatisch wie teilweise im Ausland»

Wie viele in der Branche haben auch Sie sich mit künstlicher Intelligenz auseinandergesetzt. Im Jahrheft 2024 des Presserats haben Sie geschrieben: «KI-generierte Pseudonews werden wie Schimmelpilze das Internet überwuchern.» Wo sehen Sie Schimmel wuchern?
Bei uns ist es noch nicht so dramatisch wie teilweise im Ausland. Was man aber auch hierzulande schon erkennen kann: Attraktive Eigenleistungen, die hinter der Paywall stehen, werden von anderen Medien mit KI schnell zusammengefasst und dann ins freie Internet gestellt. Das ist wirklich ein Problem. Und man kann nichts dagegen machen, weil die Quelle in der Regel genannt wird. Darum ist es vermutlich urheberrechtlich schwierig, dagegen vorzugehen.

Könnte der Presserat solches Vorgehen als unethisches Verhalten rügen?
Ich wüsste nicht, welchen Punkt man dagegen vorbringen könnte. Dazu müsste vielleicht der Kodex ergänzt werden.

Gab es 2024 Beschwerden, welche die Verwendung von künstlicher Intelligenz in journalistischen Beiträgen monierten?
Leider nicht. Aber ich wünschte mir das. Was mich umtreibt und wo ich noch nicht weiss, wie wir damit umgehen würden, ist die Deklarationspflicht. Wir schreiben in Punkt 2 unseres KI-Leitfadens, dass Medienschaffende deklarieren müssen, wenn sie KI verwenden. Das Problem ist aber, dass diese Selbstverpflichtung auf keine Richtlinie des Presserats verweist.

Was wäre damit gewonnen, wenn der Presserat feststellen würde, dass eine Redaktion KI eingesetzt hat, ohne sie ausreichend zu deklarieren?
Klar: Nur weil eine Redaktion deklariert, dass sie KI verwendet, wird der Journalismus damit ja nicht besser. Darum finde ich es interessant, dass sich unser Stiftungsrat in diesem Zusammenhang auch mit den Rechten der Journalisten befasst. Die Rechte stehen überhaupt nicht im KI-Leitfaden, weil wir aus der Berufsperspektive heraus sagen, was man darf und was nicht. Aber die Rechte sind genauso wichtig im Umgang mit KI. Welche Rechte muss man den Journalisten zubilligen, damit sie weiterhin guten Journalismus machen können und nicht gezwungen werden, mit Instrumenten zu arbeiten, die sie gar nicht wollen.

Wenn ich das so höre, kriege ich den Eindruck, dass der Presserat in Sachen KI noch ziemlich am Anfang steht.
Total. Wir sind erst daran herauszufinden, was die richtigen Fragen sind. Das hat auch damit zu tun, dass die Entwicklung in der Schweiz noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie etwa in den USA, wo es ganze News-Sites gibt, die komplett mit KI generiert sind. Mit dieser Aussicht muss man den Leuten etwas in die Hand gehen, damit sie sofort erkennen, was noch «handmade Journalism» ist und was nicht. Am Schluss geht es einfach darum, dass jemand die Verantwortung übernimmt. Ob das jetzt mit KI bereitgestellt wurde oder nicht, spielt eigentlich gar nicht so eine grosse Rolle. Im Prinzip geht es um eine Schärfung der Fehlerkultur, weil wir mit KI ein System nutzen, das gerne Fehler produziert.

In der Serie «Das war 2024» greifen wir die grossen Themen des Jahres in kompakter Form nochmals auf. Hier finden Sie die Übersicht


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KOMMENTARE

Christoph Schütz
18.12.2024 13:23 Uhr
Wenn Frau Boos nicht weiss, wie sie selber sagt, weshalb nur sehr wenige Beschwerden (7% im 10-Jahresmittel ganz und weitere 16% teilweise) gutgeheissen werden, was weniger als ein Viertel ist, kann man meine diesbezüglichen Gedanken zu diesem Phänomen in der aktuellen Nummer von EDITO oder online bei infosperber nachlesen. Dass eine Branchenorganisation primär ihre eigenen Mitglieder vor Kritik in Schutz nimmt, liegt in der Natur der Sache und kann man ihr nicht einmal übel nehmen. Wenn die Medien jedoch (zu Recht) auf ihre demokratierelevante Funktion hinweisen und öffentliche Gelder beanspruchen, sollte auch der Presserat primär durch Vertreter der Zivilgesellschaft zusammengesetzt sein. https://www.infosperber.ch/medien/presserat-muss-effizienter-werden-und-naeher-zum-publikum/
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