03.02.2019

SRF Dok

«Ich wollte möglichst nah ran an meine Protagonisten»

Vanessa Nikisch zeigt in «Generation Selfie» die Social-Media-Welt der Jungen so, wie sie viele noch nie gesehen haben. Gegenüber persoenlich.com erklärt die SRF-Autorin ihre Erkenntnisse und nimmt Stellung zur Frage, ob sie den Influencer Younes hätte rücksichtsvoller behandeln sollen.
SRF Dok: «Ich wollte möglichst nah ran an meine Protagonisten»
Vanessa Nikisch filmte Influencer Younes beim Chilbi-Besuch. Dort fragte sie ihn, ob seine vielen Fans wüssten, dass er homosexuell sei. (Bilder: zVg/Videostill)
von Edith Hollenstein

Frau Nikisch, mit «Generation Selfie» ist Ihnen ist eine aufwühlende Dok gelungen. Was für Feedbacks erhielten Sie nach der Ausstrahlung?
«Erschrocken» oder «verblüfft», das waren zusammengefasst die Reaktionen aus meinem Umfeld. Wir Erwachsenen wissen zwar, dass diese Parallel-Welt existiert, viele von uns haben auch Einblick, aber mal ehrlich: Wer von uns hat den Überblick? Das ist dann wohl auch der Punkt. Wir wissen, dass sich unsere Kids in einer uns fremden Welt bewegen. Das beunruhigt und beängstigt uns.

Wie lange arbeiteten Sie an diesem Film?
Es war eine eher schmale Produktion. Ich wollte möglichst nah ran an meine Protagonisten, in ihren Alltag eintauchen. Intensiv, aber kurz. Nach meiner Erfahrung gibt man sich am Anfang vor der Kamera am authentischsten. Bei Chiara war es beispielsweise ein Drehtag, bei Michelle waren es zwei.

Vanessa Nikisch


Wie gingen Sie vor bei der Recherche und Auswahl der drei Protagonisten?

Mit Hilfe meiner 15-jährigen Nichte. Wir haben auf Instagram und Tik Tok nach geeigneten Protagonisten gesucht. Ich gebe zu, ich kannte mich bis zum Film nicht sonderlich gut auf diesen Plattformen aus. Meine Tochter ist noch zu jung, mich selber hat es nie gereizt. Die Art und Weise wie Teenager sich im Internet präsentieren, hat mir natürlich sehr bei der Auswahl geholfen.

«Eigentlich hatte ich zuerst einen anderen Fokus»

Aus welchen Gründen haben Sie sich für Michelle, Younes und Chiara entschieden?
Eigentlich hatte ich zuerst einen anderen Fokus. Und zwar die Frage: Wie wirken sich manipulierte Bilder auf das Selbstbild der Jugendlichen aus? Chiara dokumentiert auf Instagram öffentlich ihre Transformation von der 25 Kilo leichten Magersüchtigen zur durchtrainierten Sportlerin. Michelle präsentiert im Internet unverkrampft ihre aufgespritzten Lippen. Die beiden schienen mir sofort geeignet.

Und Younes?
Bei ihm war ich erst unsicher, da ich einen jungen Mann suchte, der sein Sixpack zur Schau stellt. Dann wurde mir aber klar, dass es bei dem Ganzen mehr als bloss um Eitelkeit oder den äusseren Schnickschnack geht. Die Kids wollen Likes. Bei Instagram und Co. sind Likes Herzen. Und wofür steht ein Herz? Younes weiss sehr wohl, dass er mit den virtuellen Herzen mangelnde Liebe kompensiert. Das machte ihn für mich zu einem spannenden Protagonisten.

Auffällig war, wie Sie mit beharrlichem Nachfragen den Darstellern entlarvende Antworten entlocken konnten, die nicht nur das TV-Publikum aufwühlten, sondern wahrscheinlich auch die drei Darsteller Michelle, Younes und Chiara selber. Was war Ihre Absicht mit dem Einsatz dieser Fragetechnik?
Die Absicht? Ganz klar: Nähe! Wir haben eine Reportage gedreht. Das heisst: wenig inszenieren, den Menschen im Moment erfassen. Auch was die Fragen anbelangt. Es gab kein Script, keinen Fragekatalog. Als Reporterin frage ich spontan und automatisch das, was mir im Augenblick der Szene durch den Kopf geht. Meist ist es auch das, was jeder Zuschauer in diesem Moment fragen würde. Auf spontane Fragen wird spontan geantwortet. In der Regel sind spontane Antworten echt und ungeschönt.

«Chiara war vor der Ausstrahlung enorm nervös»

Denken Sie, dass die Dok auch bei diesen dreien etwas ausgelöst hat?
Ich sehe da Parallelen zu Social Media: Es geht auch hier um die Aussenwirkung, also das Feedback. Chiara war vor der Ausstrahlung enorm nervös. Ihr ist wichtig, wie sie ankommt und gegen aussen wirkt. Sie hat nach der Sendung viele positive Kommentare und Likes auf Instagram erhalten und ist somit glücklich. Michelle ist zurzeit im Ausland. Per WhatsApp sandte sie mir Herzen. Das werte ich als positives Zeichen. Younes schrieb mir, dass ihn der Film unerwartet gepuscht habe. Er will das nun nutzen, um als Influencer durchzustarten.

Hat sich Younes gemeldet bei Ihnen oder haben Sie durch die Medien erfahren, dass er unzufrieden ist damit, dass die Szene mit seinem Outing ausgestrahlt wurde?
Ja, er hat sich am Abend nach der Ausstrahlung bei mir gemeldet. Ich kann das hier auch sagen, weil mit ihm abgesprochen: Er fand den Beitrag cool. Das Outing gefiel ihm im Nachhinein weniger, aber er fand es okay.

«Es ist frech, dass sie das im TV gezeigt haben», sagte Younes zu Nau. Kurz danach berichteten auch 20min.ch und blick.ch über seine Kritik.
Nach diesen Schlagzeilen schrieb er mir: «Du weisst am besten, wie ihr Journalisten funktioniert.» Younes hat seit der Ausstrahlung übrigens über 1000 Followers gewonnen und mehrere Job-Angebote erhalten.

«In seinem engeren Umfeld macht Younes kein Geheimnis um seine Homosexualität»

War er vor der Ausstrahlung darüber informiert, dass der Film ihn outet?
Ja, Younes war informiert.

Er sagt im Film, dass er über seine Homosexualität nicht sprechen wolle. Wäre es nicht in Ihrer Verantwortung gewesen, Younes zu schützen? Hätten Sie hier allenfalls rücksichtsvoller sein sollen?
Klar, bin ich mir dieser Verantwortung bewusst. Es geht ja in diesem Film auch um Schein und Sein, wie man sich in der Onlinewelt präsentiert. Wenn einer ein Mädchenschwarm ist und sich so gibt, scheint mir eine solche Frage unabdingbar. Younes kannte meine Einstellung dazu und wusste, dass wir im Verlauf der Dreharbeiten dieses Thema ansprechen werden. In seinem engeren Umfeld macht er auch kein Geheimnis um seine Homosexualität. Als wir dann an der Chilbi waren und all die Mädchen ihn umarmten, habe ich ihn spontan gefragt, ob seine Fans wissen, dass er schwul sei. Seine Antwort: Er wolle darüber nicht im Detail reden. Gleich im Anschluss an diese Szene habe ich Younes gefragt, ob ich diese für den Film verwenden dürfte. Er gab sein Einverständnis – übrigens haben wir das auch auf Kamera.

Nach dieser Recherche und der Arbeit am Film: Zu welcher Erkenntnis sind Sie gelangt in Bezug auf die Frage, was man als Eltern seinen Kindern im Umgang mit dem Smartphone lehren sollte?
Was suchen die Kids in den Sozialen Medien? Bestätigung und Aufmerksamkeit. Geben wir ihnen diese Anerkennung doch besser im realen Leben – und zwar gleich haufenweise.




Vanessa Nikisch stieg 1996 in den Journalismus ein. 2004 kam sie zu SRF als Redaktorin der «Rundschau». Seit 2014 arbeitet sie für «Reporter» und «DOK-Serien». Dort realisierte sie unter anderen «Achtung: neue Feministinnen!» oder «Bis dass der Tod uns scheidet».



Kommentar wird gesendet...

Kommentare

Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Zum Seitenanfang20240426