Wer den Link anklickt, findet nicht mehr die ausführliche Recherche zu möglichen Missständen in einem Zürcher Behindertenheim, wie sie am 18. November auf tagesanzeiger.ch veröffentlicht wurde. Stattdessen steht dort seit Kurzem ein Hinweis, wonach dieser Inhalt nicht mehr verfügbar sei; er wurde vom Netz genommen und depubliziert. Der verschwundene Artikel, heisst es, «erweckte mit der Bebilderung und im Text den Eindruck einer Parteinahme. Er war nicht mit den Qualitätsstandards des ‹Tages-Anzeigers› vereinbar.» Signiert ist der Löschhinweis nicht. Doch eigentlich müsste dort der Name von Mathias Müller von Blumencron stehen. Der Leiter Publizistik von Tamedia sagt gegenüber persoenlich.com: «Den Entscheid habe ich durchgesetzt und ich stehe dahinter.» Angeregt hatte die Löschung Tamedia-Verleger Pietro Supino.
Kritik: innere Pressefreiheit geritzt
Kein Verständnis für die Depublikation zeigen dagegen die verantwortlichen Ressortleiter. Sie hätten darauf gedrängt, den Artikel wieder zu publizieren, berichtete das Onlinemagazin Republik am Montag. Auf Anfrage von persoenlich.com wollten die zuständigen Personen keine Stellung nehmen. Die Intervention des Verlegers habe die innere Pressefreiheit geritzt, schreibt die Republik weiter.
Ein Vorwurf, den Tamedia klar zurückweist. «Der Sinn und Zweck der inneren Pressefreiheit ist nicht, redaktionelle Fehlleistungen zu schützen. Beim Qualitätsmonitoring geht es ausschliesslich um Fragen der journalistischen Qualität, die für uns eine sehr hohe Priorität hat», schreibt Ursula Nötzli. Die Aussage der Kommunikationschefin der TX Group, zu der auch Tamedia gehört, stammt aus einer Mail, die sie dem Republik-Autor schrieb und später als Kommentar unter seinem Artikel veröffentlichte.
Ausgewogener Artikel
Die nun verschwundene Recherche ging der Frage nach, ob es sich bei einer Reihe von gravierenden Unfällen und Todesfällen in einem Heim für schwerste Epileptiker um tragische, aber letztlich nicht zu verhindernde Einzelfälle handelt oder ob die Institution versagt habe. Dabei kamen auf der einen Seite eine Mutter eines geschädigten Heimbewohners und ihr Anwalt zu Wort, auf der anderen Seite konnten Exponenten des Heims und seiner Trägerschaft zu jedem Kritikpunkt Stellung nehmen. Sie sahen ihre Position angemessen wiedergegeben und hielten den Text für ausgewogen. Entsprechend drängten sie auch nicht auf eine Löschung. Tamedia-intern klopfte das Recherchedesk den Artikel auf handwerkliche Mängel ab – und fand keine.
Weitgehend Einigkeit herrschte bezüglich der Kritik an der Illustration. Bebildert wurde die Doppelseite mit einer Zeichnung des bekannten Illustrators Benjamin Güdel, die einen Mann in einer Badewanne zeigt, wo Flammen aus dem Wasser aufsteigen. Davor steht eine weitere Person, von der man nur den Rücken sowie einen entblössten Unterarm sieht. Nur von der Zeichnung her zu schliessen, bleibt offen, ob diese Person zu Hilfe kommt oder für das Inferno verantwortlich ist. Die Darstellung soll einen im Text geschilderten Fall illustrieren, bei dem sich ein Heimbewohner in zu heissem Badewasser die Haut grossflächig verbrüht hatte, weil er sich wegen seiner schweren Epilepsie nicht über die zu hohe Temperatur beschweren konnte.
Misslungene Bebilderung
Die Bildwahl sei «misslungen», sagt Mathias Müller von Blumencron. Umso mehr, weil sie offenlasse, ob hier jemand mutwillig einer hilflosen Person Schmerzen zufüge. Das sei ein «sehr schwerer Vorwurf», der hier anklinge. Auch eine zweite Illustrationsvariante, die in anderen Tamedia-Blättern zum gleichen Artikel zu sehen war, ging in die gleiche Richtung: Ein Handabdruck an einer nassen Glaswand weckt Erinnerungen an die ikonische Mordszene aus dem Hitchcock-Film «Psycho».
In den gedruckten Zeitungen liess sich die Illustration nicht mehr ändern. Aber online hätte man die unpassenden Bilder entfernen, mit angemessenen Motiven ersetzen und sich entschuldigen können. Doch es ging um mehr. Das wurde am vergangenen 24. November deutlich.
Damals traf sich in Winterthur das Personal der Zürcher Tamedia-Zeitungen zusammen mit der Chefredaktion und Verleger Pietro Supino, um über die Ergebnisse des jährlichen Qualitätsmonitorings zu diskutieren. Die Initiative dazu ging vor sieben Jahren von Supino aus. Die Runde war zusammengekommen, um über gelungene und weniger gelungene Artikel sowie darüber zu diskutieren, was man daraus für die Zukunft lernen kann. Unter den Negativbeispielen figurierte auch die Heim-Recherche. In die Diskussion eingebracht hatten sie Müller von Blumencron und Supino. «Der Artikel war mir und unserem Verleger aufgefallen. Wir haben beschlossen, den Text ins Qualitätsmonitoring aufzunehmen, weil er ein interessantes Muster zeigt», sagt Mathias Müller von Blumencron im Gespräch mit persoenlich.com.
«Schlagseite» und «Parteinahme»
Mit dem «interessanten Muster» meint der Leiter Publizistik die «Schlagseite» und «Parteinahme» im betreffenden Artikel. Diese zeigten sich in einer zu starken Orientierung an den Aussagen des Anwalts der Angehörigen der Heimbewohner. Im vorliegenden Fall könne so der Eindruck einer Parteinahme entstehen. «Dabei gibt es – Stand heute – keinen Anhaltspunkt, dass die Klinik schuldhaft gehandelt hat.» Die Vorwürfe gegen das Heimpersonal und die Trägerschaft der Institution hätten «ein Übergewicht» erhalten. Und weil sich die erwähnten inhaltlichen Mängel nicht mit wenigen Handgriffen beheben liessen, habe es keinen anderen Weg gegeben als die Depublikation des betreffenden Artikels. «Wir werden das Thema wieder aufgreifen, wenn eine noch laufende Untersuchung des kantonalen Sozialamts abgeschlossen ist», sagt Müller von Blumencron.
In dessen Kritik, die er in ähnlicher Form an der Veranstaltung in Winterthur vorgebracht hatte, stimmte damals auch Tamedia-Verleger Pietro Supino ein. Allerdings weniger differenziert als sein Vorredner. Gemäss übereinstimmenden Berichten von Anwesenden und Aussagen im Onlinemagazin Republik sagte Supino wörtlich: «Ich schäme mich für diesen Text. Er ist inakzeptabel.» Vor Ort sorgte die Heftigkeit seiner Wortmeldung für Irritation, zumal sich Supino vorher nicht in die Diskussion eingemischt hatte.
«Wir müssen uns immer wieder hinterfragen»
Dass die Recherche trotz der – nun nachträglich monierten – Mängel publiziert wurde, hält Mathias Müller von Blumencron für ein «klassisches Organisationsversagen». Die Autorin, deren Arbeit er sehr schätze, treffe dabei keine Schuld. Es hätten die Kontrollmechanismen versagt. Das Qualitätsmonitoring sei genau dazu da, solche Mängel künftig besser zu erkennen und zu benennen. «Wir müssen uns immer wieder hinterfragen», sagt der Leiter Publizistik. Damit solle verhindert werden, dass Artikel in dieser Form gar nicht erst veröffentlicht würden.
Redaktionsintern sorgt das Vorgehen um den gelöschten Artikel für Verunsicherung. Wenn das die neuen Qualitätsstandards seien, dann müsste man viele Artikel löschen, hört man aus der Tages-Anzeiger-Redaktion. Eine Einschätzung die der Leiter Publizistik nicht teilt. Im vorliegenden Fall sei es schliesslich nicht um Kleinigkeiten gegangen, sondern um schwere Körperverletzungen und Todesfälle.
Nachträgliche Stellungnahme von Marco Boselli, Verantwortlicher für das Qualitätsmonitoring von Tamedia zur Artikellöschung
Warum der Artikel den journalistischen Anspruch von Tamedia nicht erfüllt:
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vorausgeschickt sei, dass die Qualitätssicherung eine kollektive Aufgabe der Redaktion und nicht die alleinige Verantwortung einzelner Autoren und Autorinnen ist
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beim aufmerksamen Lesen des Artikels entsteht der Eindruck der Instrumentalisierung durch einen Anwalt
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er beruht weitgehend auf Akten, die der Anwalt zur Verfügung gestellt hat
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korrekterweise wurde die kritisierte Institution zur Stellungnahme eingeladen und wiedergegeben
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aber der Anspruch an eine investigative Recherche wird nicht erfüllt
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die Redaktion hat sich kein eigenes Bild vor Ort gemacht, nicht über die einseitigen Vorwürfe hinaus recherchiert und keine weiteren Quellen angesprochen, was leicht möglich gewesen wäre
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das Aufdecken von Missständen im lokalen und regionalen Bereich gehört zum Selbstverständnis von Tamedia, entsprechend hoch sind die Ansprüche an solche Recherchen
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die Illustration unterstellt mindestens das Unterlassen einer Hilfeleistungen gegenüber einer anvertrauten behinderten Person, was von der Redaktion gar nicht beurteilt werden kann
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dazu wurde im Artikel die Epi Klinik anstelle des Epi Wohnheims abgebildet (was zeigt, dass nicht vor Ort recherchiert wurde)
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Tamedia pflegt eine Fehlerkultur, in der wir zu diesen stehen, korrigieren und daraus lernen, wenn wir unseren eigenen Anspruch nicht erfüllen, was vorkommen kann.
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