04.11.2024

US-Wahlen

Sechs Stimmen über das Wahlkampffinale

Die aktuelle Woche steht ganz im Zeichen der amerikanischen Wahlen. Macht Kamala Harris oder Donald Trump das Rennen? Die USA-Korrespondentinnen und -Korrespondenten von NZZ, Tamedia, CH Media, Blick und SRF bezeichnen die letzten Wochen als «Achterbahnfahrt», «gehässig» oder «wild».

Barbara Colpi
Radio-Korrespondentin SRF in Washington


Wie haben Sie den Wahlkampf in den letzten Wochen wahrgenommen?
«Mir fällt vor allem auf, dass sehr viele Menschen zurzeit sehr schlecht schlafen und nervös sind. Die einen beten jeden Abend, dass Trump die Wahl gewinnt und das Land rette, die anderen liegen wach, weil sie bei der Vorstellung von Trump an der Macht Bauchschmerzen kriegen.»

Welche Anekdote aus Ihrer journalistischen Arbeit, möchten Sie mit den Leserinnen und Lesern teilen?
«Meinen allerersten Tag in den USA als Korrespondentin werde ich nie vergessen. Ich kam am Vorabend spät in meinem Airbnb an (eine Wohnung hatte ich noch nicht). Am nächsten Morgen kam die Pushnachricht, dass der Oberste Gerichtshof das landesweite Recht auf Abtreibung aufgehoben hatte. Ich hatte mich sofort, wie viele andere auch, aufgemacht zum Supreme Court und erlebte gleich am ersten Tag, was es heisst, mittendrin zu sein, wenn in den USA Geschichte geschrieben wird.»

Trump oder Harris: Wer wird Ihrer Meinung nach ins Oval Office einziehen?
«Harris.»


Fabian Fellmann
Washington-Korrespondent von Tamedia und Süddeutsche Zeitung



Wie haben Sie den Wahlkampf in den letzten Wochen wahrgenommen?

«Wie eine Achterbahnfahrt, die immer wieder die Geisterbahn durchquert. Beide Kampagnen führen einen sehr harten Wahlkampf, mit grossem Einsatz, Bergen von Geld und Tausendschaften an Helfern. Trotzdem ist in diesen letzten Wochen vieles improvisiert, hektisch und getrieben von Umfragen – entsprechend schnell verändert sich die Gefühlslage in den beiden grossen politischen Lagern. Viele Amerikanerinnen und Amerikaner haben bereits wieder abgehängt, weil sie ihren Wahlzettel schon eingeworfen haben. Viele sind ausgelaugt am Ende von zwei Jahren Donald Trump im Wahlkampfmodus. Viele mögen seine zunehmend bedrohlichen Entgleisungen nicht mehr hören, nicht wenige bereiten sich gedanklich aufs Auswandern vor. Das ist auch ein Signal dafür, welche Strahlkraft die plötzliche Hoffnungsträgerin der Demokraten, Kamala Harris, verloren hat. Es bleibt spannend bis zum Schluss – und es bleiben noch ein paar Tage, um sich noch einige Male zu gruseln.»

Welche Anekdote aus Ihrer journalistischen Arbeit möchten Sie mit den Leserinnen und Lesern teilen?
«Wir europäischen Journalisten erhalten so gut wie nie einen Pressepass für Wahlkampfveranstaltungen von Donald Trump. Also stellen wir uns wie der allergrösste Teil des Publikums stundenlang in eine Warteschlange. Der Vorteil daran ist, dass wir nicht im eingezäunten Pressebereich eingepfercht werden, sondern mitten unter den Trump-Fans stehen. Diese sind auf Europäer meistens gut zu sprechen. Donald Trump beschimpft bei seinen Reden stets die Medienschaffenden als «Fake News», die ganze Menge zeigt auf sie und buht sie aus. Dann drehen sich meine Gesprächspartner oft wieder zu mir um und versuchen mich zu besänftigen: «Dich meinen wir natürlich nicht, du bist okay.» Direkt bedroht fühlte ich mich davon nie, aber solche Szenen sind beunruhigend, weil darunter die Medienfreiheit leiden kann. Schwierig war auch der Vorwahlkampf der Republikaner. Nikki Haleys Team gewährte meistens keinen Medienzugang, und als ich eine ihrer Reden als Zuschauer besuchte und einen Anhänger interviewte, wollte mich ein Mediensprecher aus dem Saal werfen lassen – spontan verteidigte mich mein Gegenüber als seinen Freund. Später stellte Haleys Kampagne Medienaufpasser an die Eingangstüre, worauf eine französische Kollegin und ich uns mit hochgeschlagenem Kragen unter eine Gruppe von Studierenden mischten, um uns in eine Veranstaltung zu schleichen. Mit Erfolg!»

Trump oder Harris: Wer wird ins Oval Office einziehen?
«Wer vorgibt, die Antwort zu kennen, lügt. Mein Bauchgefühl sagt Trump, aber wetten würde ich darauf keinen Cent.»


Marie-Astrid Langer
NZZ-Korrespondentin in San Francisco



Wie haben Sie den Wahlkampf in den letzten Wochen wahrgenommen?

«Die Amerikaner haben viel Herzblut in den Wahlkampf gesteckt. Aus Kalifornien reisen seit Wochen ehrenamtliche Helfer der Demokraten in die angrenzenden Swing States Arizona und Nevada, um Wähler umzustimmen. Manche fliegen sogar quer durchs Land nach Pennsylvania. Ebenso ziehen republikanische Wahlhelfer mit Trump-Fahne in der Hand von Tür zu Tür und werben unermüdlich für ihren Kandidaten. Viele haben klare Meinungen zu beiden Kandidaten, ich habe wenige unentschiedene Wähler getroffen.»

Welche Anekdote aus Ihrer journalistischen Arbeit möchten Sie mit den Leserinnen und Lesern teilen?
«Dass die Wirtschaft wirklich ‹top of mind› für viele Amerikaner ist. Insbesondere die Inflation trifft viele in ihrem Alltag sehr, das hab ich in Gesprächen immer und immer wieder gemerkt. Die Lebenshaltungskosten sind einfach enorm gestiegen, Lebensmittel, Kinderbetreuung, Miete, Benzin. Das ist ein viel greifbareres Problem als Migration oder Handelstarife. Ich denke noch oft an eine schwangere Mutter, die erzählte, sie müsse das Essen für ihre zwei Kinder nun über mehrere Tage strecken, weil alles so teuer geworden sei. Viele haben wirklich existenzielle Sorgen.»

Trump oder Harris: Wer wird ins Oval Office einziehen?
«Ich denke, es wird ein sehr knappes Rennen. Wenn die östlichen Staaten kein klares Ergebnis liefern, könnte es Tage dauern, bis wir einen Entscheid haben.» 


Renzo Ruf
Washington-Korrespondent der CH-Media-Zeitungen


Wie haben Sie den Wahlkampf in den letzten Wochen wahrgenommen?

«Als sehr intensiv. Der Endspurt zum Wahltag ist eine grossartige Mischung aus Events und Ansprachen, zahlreichen Gesprächen mit Wählerinnen und Wählern sowie intensiven Analysen von Umfragedaten. Und stets habe ich als Journalist das Gefühl, dass ich etwas verpassen könnte. Beim Blick zurück zeigt sich dann häufig, dass die wahlentscheidenden Momente sich schon viel früher ereigneten – aber wenn man mittendrin ist, dann verliert man manchmal den Überblick.»

Welche Anekdote aus Ihrer journalistischen Arbeit möchten Sie mit den Leserinnen und Lesern teilen?
«Das Attentat auf Donald Trump im Juli, einer der Wegmarken in diesem wilden Wahlkampf, habe ich während einer Autofahrt mitbekommen. Weil ich mir aber eine Liveübertragung des Anlasses anhörte, ohne Kommentar oder Moderation, wusste ich hinter dem Steuer meines Pickups nicht, was da soeben passiert war. Ich hörte die Schüsse und die Schreie des Publikums, hatte aber keine Ahnung, ob Trump noch am Leben ist. Erst als ich nach einigen dramatischen Sekunden am Strassenrand einen Parkplatz finden konnte, konnte ich mir Klarheit verschaffen.»

Trump oder Harris: Wer wird ins Oval Office einziehen?
«Die Umfragen deuten auf ein knappes Rennen hin, und am Ende könnte der Zufall – einige Zehntausend Stimmen in einem politisch umkämpften Bundesstaat wie Pennsylvania – den Ausschlag geben. Grundsätzlich gilt: Trump dominiert die Schlagzeilen, Harris aber ist besser organisiert. Normalerweise gewinnt, wer seine Anhängerinnen und Anhänger besser mobilisieren kann.»


Samuel Schumacher
Blick-Auslandsreporter in den USA



Wie haben Sie den Wahlkampf in den letzten Wochen wahrgenommen?

«Gehässig. Die omnipräsente Fernseh- und Radiowerbung der beiden Lager macht einen glauben, dass Amerika tatsächlich untergehen könnte, wenn die jeweils andere Seite diese Wahlen gewinnt. Zudem ist vor allem unter Trump-Anhängern der Glaube weit verbreitet, dass die Wahlen nicht fair verlaufen und ihr Polit-Idol mit unlauteren Mitteln um den Sieg gebracht werden wird. Die Angst vor und teils auch der Hass auf politisch Andersdenkende ist viel, viel grösser als etwa bei uns in der Schweiz. Und er scheint mir auch deutlich grösser als noch vor vier Jahren bei der letzten US-Präsidentschaftswahl.»

Welche Anekdote aus Ihrer journalistischen Arbeit möchten Sie mit den Leserinnen und Lesern teilen?
«Ich reise mit einem Camper quer durch Kalifornien und die südwestlichen Swing-States. Beim Abwasch auf dem Furnace Creek Campingplatz im Death Valley habe ich Tracey kennengelernt, eine Kinderärztin aus Los Angeles. Sie hat mir von der Ohnmacht vieler Amerikanerinnen und Amerikaner erzählt, die in einem der 43 Nicht-Swing-States leben und deren Stimme damit faktisch keinen Einfluss auf die Wahlen hat. Tracey hat ihren Sohn, der in Arizona studiert, dazu überredet, seinen Wohnsitz offiziell dahin zu verlegen, dass wenigstens seine Stimme Gewicht hat. Dieses offenbar verbreitete Gefühl, politisch keine Rolle zu spielen, weil man in einem bestimmten Staat wohnt, ist eine der vielen ‹underreported Stories› aus diesem faszinierenden Land.»

Trump oder Harris: Wer wird ins Oval Office einziehen?
«Donald Trump. Zwei Beobachtungen dazu. Erstens: Ich habe mehrere Tage in Kamala Harris’ Heimatstadt Oakland verbracht und mit alten Freunden von ihr gesprochen. Der Enthusiasmus für die Kandidatin aus der eigenen Stadt ist gleich Null. Man sieht kaum Wahlplakate oder Harris-Shirts. Ganz anders sieht das in Trumps Heimatstaat Florida aus. Zweitens: Man kann sich als Europäer nur schwer vorstellen, wie verzerrt die Weltwahrnehmung vieler Amerikaner ist. Selbst gut gebildete Menschen sitzen etwa der Mär auf, das Land werde von kriminellen Migranten überrannt, obwohl das faktisch falsch ist. Viele dieser Fehlinfos spielen Trump in die Hände.»


Pascal Weber
TV-Korrespondent SRF in Washington



Wie haben Sie den Wahlkampf in den letzten Wochen wahrgenommen?
«Die Auseinandersetzung war schon von Anbeginn an hart, sei es, als noch Joe Biden als Kandidat der Demokraten Trumps Gegner war, oder auch nach Bidens Verzicht, als Trumps Gegnerin plötzlich Kamala Harris hiess. Doch die Gewalt androhende Düsterheit, die Trumps Kampagne in den letzten Wochen angenommen hat und die mit seiner Kundgebung im New Yorker Madison Square Garden ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat, macht mir Sorgen.»

Welche Anekdote aus Ihrer journalistischen Arbeit möchten Sie mit den Leserinnen und Lesern teilen?
«Es war an einem Tag im August, Kamala Harris hatte gerade ihren Running Mate Tim Walz verkündet, und stürmte euphorisch durchs Land. Wir folgten ihr von Philadelphia über Detroit nach Phoenix, eine Wahlkundgebung war grösser und lauter als die andere. In Phoenix kam ich mit einer Verkäuferin ins Gespräch, sie fragte mich, was ich in Arizona machen würde. Ich erklärte ihr, wir seien wegen Kamala Harris hier. «Kamala, Camela, Camilla… – das ist die aus England, oder?», fragte sie. Es dauerte eine Weile, bis ich darauf kam, dass sie die Königin von England meinte. ‹Nein, Kamala Harris, die Vizepräsidentin›, versuchte ich zu erklären. Ihre Frage folgte wie aus der Pistole geschossen: «Vizepräsidentin von welchem Land?» Natürlich, es ist nur eine Anekdote – aber sie zeigt, wie nahe in den USA völlige Politikabstinenz und grosses Politengagement nebeneinanderstehen. Und wie wenig die beiden Welten miteinander zu tun haben.»

Trump oder Harris: Wer wird ins Oval Office einziehen?
«Niemand hat momentan ein klares Bild. Selbst die Kampagnen wissen nicht, wo sie stehen. Vor vier Jahren etwa waren sich die Demokraten zu diesem Zeitpunkt sicher, dass Joe Biden gewinnen würde. Vor zwei Jahren waren sie sich sicher, dass sie bei den Zwischenwahlen nicht deutlich verlieren würden. Jetzt, wenige Tage vor diesen Wahlen, tappen sie völlig im Dunkeln. Und den Republikanern geht es genauso.»


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KOMMENTARE

KONRAD WOHNLICH
04.11.2024 10:01 Uhr
M.E. hervorragender Beitrag, danke und gratuliere!
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