30.10.2019

Politjournalismus

SVP-Zanetti kritisiert nichtsingenden Journalisten

Der Tagi-Journalist stimmt bei der Nationalhymne an der SVP-Delegiertenversammlung mit ein, der «NZZ am Sonntag»-Vertreter bleibt sitzen. Nationalrat Claudio Zanetti ärgert sich darüber. Die Argumente von Sänger und Nichtsänger.
Politjournalismus: SVP-Zanetti kritisiert nichtsingenden Journalisten
An der SVP-Delegiertenversammlung in Zumikon hat Francesco Benini von der «NZZ am Sonntag» (links) nicht mitgesungen, Ruedi Baumann vom «Tages-Anzeiger» jedoch schon. (Bilder: Screenshot Keystone-SDA/zVg.)
von Christian Beck

Die Delegierten der Zürcher SVP-Kantonalsektion haben am Dienstagabend Nationalrat Roger Köppel aus dem Ständeratsrennen zurückgezogen. Stattdessen unterstützt die Partei den Zürcher FDP-Ständerat Ruedi Noser. Noch bevor es zur Abstimmung ging, wurde im Gemeindesaal Zumikon gesungen – und zwar die Nationalhymne. Doch nicht alle sangen mit. Am Dienstagabend ärgerte sich der abgewählte SVP-Nationalrat Claudio Zanetti auf Twitter darüber, dass Francesco Benini von der «NZZ am Sonntag» sitzengeblieben sei:


Er sei tatsächlich aufgestanden zur Nationalhymne, sagt «Tages-Anzeiger»-Journalist Ruedi Baumann auf Anfrage von persoenlich.com. «Ich tue das immer. Ich stehe schliesslich auch in der Kirche bei einer Beerdigung zum Vaterunser oder bei einer Gedenkminute im Fussballstadion oder im Kantonsratssaal auf.» Das gehöre sich und sei eine Anstandsbezeugung, ob man nun SVP- oder Kirchenmitglied sei. «Ich war schliesslich nicht als Privatperson bei der SVP, sondern als Berichterstatter des ‹Tages-Anzeigers›», so Baumann.

Gerade bei dieser Argumentation scheiden sich jedoch die Geister. «Wenn ich als Journalist eine politische Veranstaltung besuche, bin ich Beobachter und nicht Teilnehmer», sagt der kritisierte Francesco Benini, stv. Chefredaktor und Inlandchef der «NZZ am Sonntag». «Ich applaudiere nicht, melde mich nicht zu Wort und singe auch nicht.» Die Kollegin von der NZZ, die neben ihm am Tisch der Medienschaffenden sass, sei ebenfalls sitzengeblieben. Baumann sass weiter vorne im Saal.

Kritischer Beobachter, nicht Fan

Sitzenbleiben oder aufstehen und mitsingen beim Schweizerpsalm? «Glücklicherweise leben wir in einem Land, in dem jede und jeder frei ist, dies für sich zu entscheiden», sagt Vinzenz Wyss, Kommunikationswissenschaftler und Professor für Journalistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Er verweist aber auf die Richtlinien des Presserates. Dort heisst es, dass Journalistinnen und Journalisten ihre publizistische Rolle von einer politischen trennen sollen. «Sie besuchen eine Parteiveranstaltung nicht als Fans, sondern idealerweise als kritische Beobachter. Daraus folgt auch das Verständnis für einen Journalisten mit Schweizer Pass, dass dieser sitzen bleibt und eben beobachtet statt teilnimmt», so Wyss zu persoenlich.com. «Es erwartet ja auch niemand, dass Journalisten beim Besuch einer Moschee eifrig mitbeten.»

Benini hat noch weitere prominente Rückendeckung erhalten. So schreibt Kabarettist Viktor Giacobbo unter Zanettis Tweet: «Es macht doch keinen schlechten Eindruck, wenn jemand bei einem per Befehl gesungenen Lied mit schwachsinnigem Text sitzen bleibt.»

Diesem Argument stimmt auch Baumann vom Tagi teilweise zu: «Den Text der Nationalhymne finde ich bireweich.» Er hätte lediglich ein paar Zeilen mitgesungen – «aber mehr aus kindlicher Gewohnheit und Freude an meiner schönen Stimme». Bei der zweiten Strophe habe er nicht mal phasenweise mitgesungen, weil er den Text nicht kenne. «Ich habe während dieser zweiten Strophe zu meinem ebenfalls stehenden Tagi-Kollegen am Tisch – ein Liechtensteiner – gesagt: ‹Wenn wir jetzt nicht mitsingen, kommen wir an den Pranger, wie die stummen Fussballer der Schweizer Nati›.»

Baumann, seit bald 30 Jahren beim Tagi, sollte recht haben. An den Pranger kam ein anderer.



Newsletter wird abonniert...

Newsletter abonnieren

Wollen Sie Artikel wie diesen in Ihrer Mailbox? Erhalten Sie frühmorgens die relevantesten Branchennews in kompakter Form.

Kommentar wird gesendet...

Kommentare

  • RUDOLF BOLLI, 01.11.2019 17:53 Uhr
    Von der SVP kann man nicht Anstand und Respekt lernen, wie die unflätigen Köppeleien gegen die andern Ständeratskandidaten gezeigt haben.
  • Simon Bierl, 01.11.2019 12:36 Uhr
    Ernsthaft? Ich dachte erst wirklich, das sei Satire. Hätte von Postillion sein können
  • Istvan Nagy, 01.11.2019 12:20 Uhr
    Victor Brunner, über den Text und Inhalt der Schweizer Nationalhymne kann und muss man diskutieren. Das ist aber ein anderes Thema. Hier geht es jedoch darum, wie man sich beim Ertönen der Nationalhymne verhält. Niemand wird zum Mitsingen gezwungen, aber überall in der Welt stehen die Leute auf, wenn eine Landeshymne gespielt wird. Hier geht es um Anstand und Respekt.
  • Victor Brunner, 01.11.2019 08:07 Uhr
    Istvan Nagy, warum soll an Sportveranstaltungen dieses Lied gesungen werden? Von einem Lied das 1840/41 enstanden ist, nur noch wenige den Text kennen oder einen Sinn in den Texten sehen? Der Schweizerpsalm bildet nichts ab was mit der heutigen Schweiz zu tun hat, ausser man sei auf Drogen, roten Strahlenmeer!
  • Ueli Baumgartner, 31.10.2019 22:27 Uhr
    Ob jemand beim Ertönen der Nationalhymne sitzen bleibt oder aufsteht, ist doch unerheblich. Hat der Zanetti keine anderen Sorgen?
  • Istvan Nagy, 31.10.2019 11:40 Uhr
    Als Sportreporter für Radio Central stehe ich auch immer auf, wenn im Sportstadion die Nationalhymne gespielt wird. Das machen auch alle anderen Sportjournalisten so. Das ist nicht mehr als Anstand!
  • Jean Baumgartner, 30.10.2019 21:41 Uhr
    Nicht ohne Grund wurde SVP-Zanetti abgewählt. Diese Episode zeigt, dass jemand, der hier ein Problem sieht, einfach nicht wählbar ist. Leider hat seine Karriere als Journalist auch nicht geklappt, hinter diesem Hintergrund dürfte der Tweet von Zanetti verstanden werden.
Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Zum Seitenanfang20240426

Die Branchennews täglich erhalten!

Jetzt Newsletter abonnieren.