05.06.2018

Medientrends Deutschschweiz 2018

Wie Catch-up-TV das Nutzerverhalten verändert

Immer mehr Deutschschweizer sehen zeitversetzt fern. Was bedeutet dieser Aufstieg für die Muster der Zuschauerinnen und Zuschauer? Und welche Herausforderungen ergeben sich für die TV-Sender? Eine qualitative Befragung von SRF gibt Antworten.
Medientrends Deutschschweiz 2018: Wie Catch-up-TV das Nutzerverhalten verändert
Eine Frau schaut auf ihrem Tablet eine RSI-Nachrichtensendung. (Bild: Keystone/Ti-Press/Pablo Gianinazzi)

Im Jahr 2017 schaute jeder zweite Deutschschweizer zumindest einmal in der Woche zeitversetzt fern. Vor vier Jahren lag dieser Wert noch bei knapp einem Drittel. Betrachtet man die Gesamtheit aller Fernsehnutzungsminuten, erfolgten davon 2017 laut Angaben von Mediapulse gut ein Sechstel zeitversetzt. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind es sogar ein Viertel. Zeitversetzte TV-Nutzung ist aber nicht nur etwas für 15- bis 29-Jährige, sondern auch Deutschschweizer zwischen 30 und 59 Jahren machen von der Möglichkeit Fernsehsendungen zeitversetzt zu schauen Gebrauch. Nur bei den über 60-Jährigen steht die Live-Nutzung klar im Fokus.

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Welche Auswirkungen hat die Möglichkeit, TV-Sendungen zeitversetzt zu nutzen, auf TV-Nutzungsmuster? Und was bedeutet Catch-up für Fernsehsender, welche nach wie vor als klassische lineare Fernsehangebote funktionieren müssen? In einer Analyse, welche Teil der Studie «Medientrends Deutschschweiz 2018» ist, präsentiert SRF vier Thesen dazu.

Die Ergebnisse basieren auf einer internen qualitativen Befragung, welche SRF 2016 in Auftrag gegeben hat. Dabei wurden 27 Vertreter der «medialen Avantgarde» bei sich zuhause interviewt. Also Personen aus jener Gruppe von Konsumenten, deren heutiges Mediennutzungsverhalten als Indikator für die künftige Mediennutzung breiter Bevölkerungsschichten gelten kann.


These 1: Die Möglichkeit, die TV-Programme der letzten Tage frei zu nutzen, führt zu einer Verarmung der Vielfalt von genutzten Inhalten. Viele schauen, was gut unterhält.

Durch die Möglichkeit, nicht nur das Live-Programm, sondern auch Sendungen der Vergangenheit zu schauen, sind Kompromisse nicht mehr nötig. Die stetige Verfügbarkeit von Programmen erster Wahl führt dazu, dass viele Befragte das Set ihrer genutzten Sendungen auf ein überschaubares Minimum einschränken: Es wird vor allem geschaut, was auf der eigenen Prioritätenliste ganz oben ist. Das heisst, die grössere Auswahl an verfügbaren TV-Inhalten hat häufig eine Reduktion der Diversität von genutzten Inhalten zur Folge und nicht etwa eine Erweiterung des Sets, wie aufgrund der reinen Verfügbarkeit von mehr Sendungen anzunehmen wäre.

Bei vielen Befragten stehen Inhalte, die zur Unterhaltung dienen, ganz oben auf der Prioritätenliste. Dank der ständigen Verfügbarkeit von Unterhaltungssendungen konzentriert sich der Fernsehkonsum noch stärker auf Sendungen dieses Genres, vor allem auf internationale Filme und Serien. Aufgrund der Loslösung der Nutzung vom linearen Programm konkurrieren alle verfügbaren Inhalte miteinander. Der Zuschauer entscheidet sich zum «Zeitpunkt X» nicht mehr in erster Linie zwischen Sendern, sondern für einen Inhalt. Inhalte müssen klar positioniert werden und ideal auf die Bedürfnisse der Zuschauer zugeschnitten sein: Wofür steht eine Sendung? Was ist das Thema einer konkreten Folge? Nur wer bereits vor der Auswahl eines Programms Antworten findet, drückt «Start».


These 2: Durch die Möglichkeit, Werbung zu überspulen, erreichen kommerzielle Sender vor allem mit Filmen und Serien ein grösseres Publikum. Profitieren können sie davon kaum.

Das Überspulen von Werbung wird als klarer Vorteil der zeitversetzten TV-Nutzung genannt, oft sogar als Hauptgrund der Nutzung. Programme von Privatsendern, deren hoher Anteil an Werbung häufig als störend empfunden wird, werden dadurch attraktiver. Einige Befragte gaben sogar an, früher explizit Privatsender mit viel Werbung gemieden zu haben, aber dank zeitversetzter Nutzung heute auch diese Sender zu schauen. Mediapulse-Daten (2017) zeigen, dass von der gesamten zeitversetzten Nutzung 53 Prozent auf kommerzielle Sender entfallen, während diese bei der Live-Nutzung nur 46 Prozent ausmachen. Kommerzielle Sender, die darauf angewiesen sind, dass die Werbeblöcke zwischen den Programmen ein möglichst grosses Publikum erreichen, können vom Nutzungszuwachs deshalb kaum profitieren.

Das Schauen von Filmen und Serien ist aus Sicht der Teilnehmenden zudem durch die folgenden zwei Funktionen attraktiver geworden: Die Möglichkeit, einzelne Folgen der Lieblingsserie per Knopfdruck automatisch aufzunehmen und die Möglichkeit, sich alle Filme und Serien, die in den letzten Tagen gelaufen sind, nach Genres sortiert anzeigen zu lassen. Diese Funktionen werden von den Befragten bereits geschätzt, jedoch spielen sie bei der Nutzung von nicht fiktionalen Inhalten, wie zum Beispiel Aktualitäts-, Magazin- und Ratgebersendungen bisher kaum eine Rolle. Es wird immer schwieriger für TV-Sender, sich im Bereich Spielfilme und Serien gegenüber der zunehmenden internationalen Konkurrenz zu behaupten. Die einzige Möglichkeit, sich abzuheben, ist die Produktion von eigenen, originären Inhalten, was aber mit grossem finanziellem Aufwand verbunden ist.



These 3: Catch-up-TV begünstigt Sendungen, die in der Primetime laufen. Erfolgreiches wird erfolgreicher, Nischensendungen werden marginalisiert.

Am Abend, ab 20 Uhr, sitzen am meisten Zuschauer vor dem Fernseher, weshalb zu dieser Zeit das attraktivste – und auch teuerste – Programm ausgestrahlt wird. In der Regel findet keine Ausweitung der zeitversetzten Nutzung auf das Tages- oder Nacht-Programm statt. Im Gegenteil: Auch diejenigen, die am Tag oder in der Nacht fernsehen, greifen (fast) ausschliesslich auf das attraktive Hauptabendprogramm desselben Tages oder der Vortage zurück. Der heute geltende Grundsatz, dass Fernsehsender ein 24-Stundenprogramm anbieten müssen, gerät aufgrund dieser Entwicklungen ins Wanken, denn die Sendeflächen ausserhalb der Hauptsendezeiten verlieren durch den Aufstieg von Catch-up-TV an Wert.


These 4: Die Abfolge von Sendungen im Programm der Sender verlieren an Bedeutung. Die Nutzer selber werden immer mehr zu Programmplanern.

Wichtig ist, dass die gewünschten Inhalte stets verfügbar und auffindbar sind. In welcher Reihenfolge sie laufen, ist sekundär. Die Befragten empfinden es als befreiend, dass ihr Fernsehverhalten durch die Möglichkeit der zeitversetzten Nutzung deutlich weniger fremdbestimmt wird. Geschätzt wird vor allem, dass Inhalte nicht mehr zum tatsächlichen Sendezeitpunkt geschaut werden müssen, sondern zu einem an die häufig wenig flexiblen Alltagsstrukturen angepassten Zeitpunkt.

War es für Fernsehsender bislang elementar, eine stimmige Abfolge von Inhalten bereitzustellen, um einmal gewonnene Zuschauer möglichst lange zu binden, entscheiden heute immer häufiger die TV-Nutzer, welche Inhalte sie wann und in welcher Reihenfolge schauen möchten. Informations-, Bildungs- und Kulturangebote, die im linearen Fernsehen dank beliebter Sendungen im Vorlauf noch Massen erreichen, werden es in Zukunft aufgrund der technischen Entwicklungen immer schwerer haben, Zuschauer zu gewinnen. Das «Hängenbleiben» kommt im zeitversetzten Modus (fast) nur noch vor, wenn eine weitere Folge der gleichen Sendung folgt. (pd/wid)



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