Miese Stimmung, mangelnde Qualität und 60-Stunden-Wochen: Mit einem Protest-Brief an die "Tages Anzeiger"-Chefredaktion und den Verwaltungsrat beschwert sich ein Grossteil der Mitarbeitenden über die Auswirkungen der Konvergenz. Das fünfseitige Papier, das persoenlich.com seit Donnerstag vorliegt, schildert im Detail, was in der Redaktion nach Ansicht der Verfasser schief läuft - und präsentiert mögliche Lösungen. Chefredaktor Res Strehle will nun schauen, wie die Stellen mit hoher Belastung entlastet werden können.
Am Mittwoch schickte die "Gruppe 200" der Tagi-Chefredaktion und dem Verwaltungsratspräsidenten Pietro Supino einen Protestbrief mit dem Titel "Wir möchten unsere Arbeit machen" (persoenlich.com berichtete). Die Verfasser beklagen darin, dass sich die bisherigen negativen Erfahrungen mit der Konvergenz auf die Stimmung, die Arbeit und damit insgesamt auf die Qualität des "Tages-Anzeigers" auswirken würden.
"Profilierte Kolleginnen und Kollegen kündigen und suchen sich eine andere Stelle, die Atmosphäre auf der Redaktion ist häufig bedrückt oder gereizt, manche klagen über eine Arbeitsbelastung weit über das korrekte Mass hinaus, es gibt viele Sitzungen und zu wenig Diskussionen, Tempo geht vor Sorgfalt, Klicks werden wichtiger, die Blattkritik kommt zu kurz, die inhaltliche Debatte sowieso: Diese Kritik wird von der gesamten TA-Redaktion seit Wochen formuliert", heisst es in der Einleitung.
Man sei grundsätzlich für die Konvergenz und bereit zur Zusammenarbeit, aber derzeit führe sie dazu, "dass die Diskussion darunter leidet - immer noch das wichtigste Kriterium für eine gute Zeitung." In fünf Punkte unterteilt, geht der Brief auf einzelne Probleme ein, schildert Beispiele aus dem Arbeitsalltag und macht konkrete Verbesserungsvorschläge.
Unklare Strategie
Die Konvergenz laufe, dennoch sei im Tagesgeschäft unklar, welche Ziele man auf den zwei Kanälen des TA verfolge, lautet Punkt eins. So wird zum Beispiel kritisiert, dass auch aufwendige Recherchen online publiziert werden, bevor sie in der Printausgabe erscheinen. Gefordert wird eine klugere Verteilung der Berichterstattung auf den "schnellen Gratiskanal und den einordnenden Bezahlkanal".
Zudem sei die Umsetzung der Paywall zu unklar und die Redaktionsleitung, die hier aufklären könnte, im Tagesgeschäft zu wenig präsent.
Tempo, Tempo!
Diese fehlende Strategie führe dazu, dass "alle alles machen sollen". Der Instant- und Allroundjournalismus, wie er im Brief bezeichnet wird, habe negative Auswirkungen auf die Qualität und die Dossierkompetenz. Er führe letztlich dazu, dass Redaktions- und Tagesleitung auf Aktionismus setzen. "Die Bekenntnisse der Chefredaktion zu Einordnung, Hintergrund und Entschleunigung (an denen es nicht mangelt) werden im Tagesgeschäft ignoriert. Wie beschleunigen unentwegt", wird weiter kritisiert.
Die Belastung der Redaktion habe dadurch enorme Ausmasse angenommen, 12-Stunden-Tage und 60-Stunden-Wochen seien keine Seltenheit. "Zudem kommt es immer wieder zu Aufträgen, am Samstag oder Sonntag zusätzliche 1c-Stories zu liefern, ohne Absprache, ohne Vertragsanpassung, ohne reelle Kompensationsmöglichkeit und finanzielle Abgeltung."
Eine Redaktion sei keine Kaserne
Viele Tagi-Redaktoren schauten sich aufgrund der beschriebenen Punkte nach einer neuen Arbeit um, was den Graben zwischen Onlinern und Printern wieder vertieft habe. "Eine gemeinsame, integrierte Redaktion ist in weiter Ferne. (...) Während von Online-Seite der fehlende Teamspirit der Printer moniert wird, stören sich Printerinnen an der Hierarchie und am Befehlston, die online den Umgangston bestimmen." - Eine Redaktion sei keine Kaserne, bringt es das Protest-Schreiben auf den Punkt.
Chefredaktion will handeln
Die Chefredaktion will das Schreiben ernst nehmen, wie "Tages-Anzeiger"-Chefredaktor Res Strehle am Donnerstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur sda bestätigte. Die Chefredaktion habe gewusst, dass die Konvergenz ein schwieriger Prozess mit viel Neuem sei. Man wolle nun schauen, wie die Stellen mit hoher Belastung entlastet werden können. Strehles Ziel: Die zusammengelegte Redaktion soll bis im Frühling 2014 gut aufgestellt sein. Dann will Tamedia auf den Newsportalen "Tages-Anzeiger" und "Der Bund" ein Bezahlmodell einführen.
Weitere Details zur Reaktion von Chefredaktor Res Strehle siehe "Wir nehmen dieses Schreiben ernst". (set/sda)
Der Brief an die Chefredaktion im Originalwortlaut:
Protest-Schreiben der Gruppe 200