07.04.2014

Vice

"Wir sind mehr als ein Lifestyle- und Jugendmagazin"

"Vice Alps"-CEO Stephan Häckel über die weltweite Medienmarke.
Vice: "Wir sind mehr als ein Lifestyle- und Jugendmagazin"

"Vice" sucht in allen Feldern die Geschichten hinter den Geschichten und will unbequeme Fragen stellen - aber nicht mehr um der blossen Provokation willen provozieren. Im Gespräch mit persoenlich.com gibt Stephan Häckel - bei "Vice" verantwortlich für die Schweiz und Österreich - Auskunft über die weltweite Medienmarke "Vice", die gleichzeitig Sprachrohr der Jugendkultur und Coffeetable-Produkt sein will. Heute Donnerstag hält er in Zürich am Jugendmarketingforum Boost einen Vortrag.

Herr Häckel, laut Wikipedia ist "Vice" ein "Lifestyle- und Jugendmagazin". Stimmt das?
(lacht) Das stimmt, aber wir sind natürlich mehr als das. Wir sind nicht nur ein Lifestyle- und Jugendmagazin, richten uns aber – auch – an ein jugendliches und jung gebliebenes Publikum.

In der Ankündigung Ihres Vortrags am Boost wird "Vice" als "Sprachrohr der Jugendkultur" bezeichnet. Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?
1994 haben wir als 16-seitiges Punkrock-Magazin angefangen. Mittlerweile sind wir ein Medienunternehmen, das in 35 Ländern präsent ist. Bei uns arbeiten junge Menschen, die Content aus dem Blickwinkel von jungen Menschen für junge Menschen aufbereiten. Wir versuchen in allen Ländern, die Marke so zu vermarkten, positionieren und redaktionell aufzuladen, wie wir sie selber sehen und wie wir sie selber mehrmals neu erfunden haben. Wir verfolgen eine "Vertical Strategy" und ziehen zu "Passion Points" – sei es Musik, Technologie, Mode, Essen oder Nachrichten – eigene Plattformen auf, weil wir wissen, dass wir damit eine kritische Masse und eine relevante Zielgruppe weltweit erreichen.

Früher habe ich "Vice" als Print-Magazin gekannt, in den letzten Jahren aber nur noch im Netz wahrgenommen. Ist Online mittlerweile der wichtigere Distributionskanal für Sie?
"Vice" hat über zehn Jahre gebraucht, um eine weltweite Printauflage von einer Million zu erreichen. Online hatten wir dieselbe Reichweite nach nicht mal zehn Monaten. Pragmatisch gesehen ist es naheliegend zu sagen, Online sei wichtiger als Print. Das heisst aber nicht, dass Print für uns unwichtig ist. Wir haben verschiedene Kanäle mit unterschiedlichem Rhythmus. Die Frage ist bei uns nicht Print oder Online, sondern was kommt wann und wie.

Ist das Print-Magazin eine Art Best-of der Online-Artikel, oder wie funktioniert das?
Nein. Print ist die länger recherchierte Geschichte, die für Online zu lange ist. Online hat eine sehr hohe Frequenz, Print kommt nur einmal im Monat. Es ist wesentlich langsamer, hat aber den Luxus, Bild- und Text-Recherche so langfristig anzusetzen, dass es zu tagesaktuellen Themen, die man Online vielleicht schon hatte, noch zusätzlichen Mehrwert schafft. Gleichzeitig verstehen wir uns im Print auch immer mehr als Coffeetable-Produkt.

Wie finden Sie die für "Vice" relevanten Themen?
Wir sind hochinteressierte Menschen und verfolgen genau, was in der Welt läuft. Für uns ist eine News-Story eine News-Story – egal ob sie aus dem klassischen Bereich kommt oder aus einem Feld wie Musik, Mode oder Technologie. Wichtig ist, dass die Geschichte relevant ist und interessiert. Wichtig sind die Fragen, die wir uns immer stellen: Welchen Mehrwert können wir dieser News-Meldung geben? Was ist die Geschichte hinter oder neben der News-Meldung? Was ist der Content, den sonst niemand hat?

Was ist Ihr Ideal von Journalismus?
Unser journalistisches Ideal ist, den Sachen auf den Grund zu gehen und zu den Geschichten hinzufahren. Wir verlassen uns nicht auf Ticker-Meldungen und machen keinen Copy&Paste-Journalismus. Wir kommen aus einer Nische mit einem sehr kritischen Zielpublikum. Unsere Leser haben einen stark ausgebildeten Bullshit-Detektor und können eine billige PR-Headline sehr gut von einer echten Story unterscheiden.

Das klingt relativ aufwendig, was Sie machen.
Es ist aufwendig, wir investieren da enorm viel Geld. Unser neuestes Projekt ist derzeit "Vice News" – ein Content-Monster. Bisher haben wir erst eine globale Version in Nordamerika gelauncht, und sind dort – im meistumkämpften Medienmarkt der Welt – sehr erfolgreich.

Kommt "Vice News" also bald auch in Europa?
Wir arbeiten hinter den Kulissen emsig. Federführend für die deutschsprachige Version ist das Büro in Berlin.

Wie arbeitet "Vice News" mit dem "Vice"-Magazin zusammen? Gibt es eine konvergente Redaktion?
Wir müssen immer schmunzeln, wenn andere Medien so rausposaunen: Wir haben jetzt einen duomedialen Newsroom! Oder sogar einen trimedialen! Wir machen das, seit es uns gibt. Als wir damals unsere Website ins Leben gerufen haben, waren logischerweise die Print-Redakteure auch die Online-Redakteure. Wir hatten von Anfang an konvergente Journalisten – das heisst Leute, die in allen Medienkanälen fit sind und wissen, wie was recherchiert, aufgearbeitet und distribuiert werden muss, so dass es seine Leserschaft findet.

Wie sieht eigentlich die Finanzierung aus bei Ihnen? Geht das ausschliesslich über Werbung?
So ist es, ja.

Und das funktioniert.
Das funktioniert sehr gut. Wir haben glücklicherweise einen sehr direkten Zugang zu globalen Marken, mit denen wir gemeinsame Content-Projekte ins Leben rufen. Das ist Content, der uns selber interessiert und gleichzeitig für den Partner Sinn macht, weil er für ihn einen neuen Kommunikationskanal öffnet. Oft fehlt den Marken der direkte Zugang zur Zielgruppe. Genau dieses Bindeglied schaffen wir.

Sie haben sehr viele politische Texte, die auch eine klare Haltung vertreten. Gibt es da Vorgaben, oder kann jeder Redakteur schreiben, was er für richtig hält?
Wir achten die Presse- und Meinungsfreiheit, das ist völlig klar. Trotzdem gibt es eine Chefredaktion, die die Sachen liest und Feedback gibt. Wir sind als "Vice" ein unabhängiges Medium, und wir wollen unbequeme Fragen stellen. Wir sind aber nicht provokativ einfach um der Provokation willen. Ich weiss, dass das früher einer der Vorwürfe gegen uns war, dass wir einfach nur laut und provokant sind, damit die Leute uns beachten. Das brauchen wir schon lange nicht mehr. Uns geht es um den Content und darum, eine Haltung zu vertreten, die wir aus der Zielgruppe für die Zielgruppe generieren. Wir sagen zum Beispiel: "Dieses Thema, das man aus der Tageszeitung kennt, funktioniert hinter den Kulissen eigentlich anders." Oder: "Alles, was Ihr schon gelesen habt, ist okay, aber die Geschichte geht hier noch weiter."

Was für Leute arbeiten eigentlich bei Ihnen? Sind das "normale Journalisten"?
Das ist eine gute Frage, wobei heutzutage eh nicht mehr ganz klar ist, was ein normaler Journalist ist. Wir wollen weder etablierte Schreiberlinge noch blutjunge Abgänger von Publizistik-Studiengängen oder Fachhochschulen. Wir brauchen Leute, die ein Gespür haben für Themen, die recherchieren können und den Ansatz finden, warum gerade das, gerade so, gerade jetzt Sinn macht. Dann müssen sie die Geschichte auch noch selber schreiben und produzieren können. Solche Menschen gibt es heute glücklicherweise mehr, als man glaubt.

Seit 2010 gibt es "Vice" auch in der Schweiz. Wie sind Sie hier aufgestellt?
Wir haben in der – deutschsprachigen – Schweiz ein eigenes Büro mit Chefredaktion und Vermarktung, momentan noch als Tochterbüro von Vice Österreich. Der Schweizer Markt ist für uns sehr interessant: Der Bedarf an gut gemachtem und distribuiertem Content ist vorhanden, Qualitätsjournalismus ist in der Schweiz ein geschätztes Kulturgut – das ist in anderen Märkten Europas nicht so. Wir glauben, dass wir in der Schweiz – unabhängig vom Journalismus, den es schon gibt – die eine oder andere Geschichte zu Tage fördern können, die es so noch nicht gegeben hat. Die Schweiz hat viel Potenzial für Geschichten und einige soziale und politische Aspekte, die noch nicht wirklich diskutiert worden sind.

Können Sie da ein Beispiel nennen?
Wenn zum Beispiel unser Schweizer Chefredakteur Till Rippmann eine Geschichte über die Szene der besetzten Häuser macht, dann knallt bei uns der Traffic innert weniger Stunden hinauf. Offensichtlich gibt es bei unserer Zielgruppe ein gesteigertes Kommunikationsinteresse und einen Diskussionsbedarf für solche Themen. Einige sehen das und denken "Okay, Vice, aha, jetzt machen die so politischen Content, wie passt denn das zusammen" – doch wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass das sehr gut zusammenpasst. Wir wissen, dass die Jugendlichen von heute – die Generation Y – mehr interessiert als nur die coolste Hose, die heisseste Band und die beste Party.


"Vice" wurde 1994 in Kanada von Shane Smith (im Bild oben mit Sonnenbrille und Gewehr), Suroosh Alvi und Gavin McInnes gegründet und ist mittlerweile in New York beheimatet. Die Print-Ausgabe liegt kostenlos in Kleidungs- und Musikgeschäften auf. Mit VBS.tv und dem neuen "Vice News" ist die Marke auch im Bewegtbildgeschäft tätig.

Das Magazin ist in 35 Ländern präsent. Seit 2005 gibt es eine deutschsprachige Ausgabe und mit "Vice Alps" einen Kanal für Österreich und die Schweiz, wo Stephan Häckel und Evangelos Kleiman-Kontopoulos Herausgeber sind. Chefredakteur ist David Bogner.

Stephan Häckel wird am Boost Youth Marketing Forum vom Donnerstag, 11. April, über "Anatomie von 'Vice' – Digital Content als Währung für Attention" sprechen. Weitere Referenten und Themen hier.

Interview: Lukas Meyer//Bilder: zVg



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