10.04.2022

Tamedia

«Wir tun nicht so, als wüssten wir alles»

Bernhard Odehnal schreibt für den neuen Tamedia-Blog zum Krieg in der Ukraine und war gerade in Lwiw unterwegs. Im persönlichen Gespräch in Wien erzählt der österreichische Reporter, was die Verifikation von Inhalten in den sozialen Medien so schwierig macht, und warum es wichtig ist, dass Journalisten am Ort des Geschehens sind.
Tamedia: «Wir tun nicht so, als wüssten wir alles»
«Es sind viele Soldaten auf den Strassen unterwegs und jeden Tag gibt es Luftalarm», so Bernhard Odehnal, der kürzlich für eine Reportage von Wien nach Lwiw gereist ist. (Bild: zVg)
von Maya Janik

Bernhard Odehnal erscheint zu unserem Treffen im Restaurant Dogenhof in Wien überpünktlich. «In der Schweiz sind alle pünktlich, das schätze ich sehr. In Österreich lässt man andere schon mal 15 Minuten warten», sagt der österreichische Journalist, der zwischen Wien und Zürich pendelt, wo er bei Tamedia unter anderem für den neuen Ukraine-Blog schreibt. Bis vor wenigen Tagen war Bernhard Odehnal für eine Reportage in Lwiw, zu Deutsch Lemberg, in der Westukraine unterwegs. Der Ort für unser Gespräch scheint genau richtig: Das Dogenhof liegt wenige Minuten vom Bahnhof Praterstern entfernt – in Zeiten der österreichisch-ungarischen Monarchie war er das Tor zum Osten. Von hier aus fuhren damals Züge nach Lwiw. Bis heute kommt man mit dem Zug von Wien direkt nach Kiew über Lwiw – auch jetzt noch seit dem Ausbruch des Krieges, erzählt Odehnal. 

Herr Odehnal, Sie schreiben für den Ukraine-Blog von Tamedia. Worum geht es bei dem Blog?
Das Ziel des Blogs ist es, Inhalten in den sozialen Netzwerken rund um den Krieg in der Ukraine auf den Grund zu gehen. Das sind vor allem Fotos oder Videos, die auf Twitter, Telegram oder Instagram oft geteilt werden.
 
Zum Beispiel?
Eine meiner letzten Recherchen war zu einem Video, das den tschetschenischen Führer Ramsan Kadyrow und seine Truppe bei der angeblichen «Befreiung» Mariupols zeigt. Kadyrow und seine Truppe sind sehr präsent in den sozialen Medien. Die Videos werden ausgiebig geteilt. Einerseits von den Anhängern Kadyrows – er hat eineinhalb Millionen Follower auf Telegram. Auf Instagram waren es sogar 8,4 Millionen, bevor sein Account im Februar gesperrt wurde. Andererseits von den Ukrainern, die sich darüber lustig machen und zum Beispiel zeigen, dass Kadyrows Auto, das im Video vorkommt, nicht in der Ukraine steht, sondern vor seinem Palast in Grosny in Tschetschenien.
 
Wie verifizieren Sie diese Informationen?
Wir schauen, was wir im Internet sonst dazu finden. Wir nutzen dafür Fact-Checking-Plattformen und andere Medien, wo die Inhalte bereits analysiert wurden. Aber auch eigene Beobachtungen und Erfahrungen spielen eine Rolle. Im Netz kursiert beispielsweise ein Video, auf dem Ramsan Kadyrow Militärfahrzeuge zeigt und behauptet, er hätte sie von den Ukrainern erbeutet. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass diese Fahrzeuge blitzblank sind und keine Kratzer oder Dreckspritzer haben. Wenn man jemals auch nur irgendwo in der Nähe eines Krieges war, weiss man, dass das nicht sein kann. Ein Fahrzeug, das einmal im Einsatz war, bekommt man nie wieder so sauber hin. Das war also ein Fake.
 
Sind die Informationen von der ukrainischen Seite immer verlässlich?
Wir müssen da genauso vorsichtig sein. Wenn ein ukrainischer Blogger mit einem Bild eine angebliche Behauptung Kadyrows widerlegen will, Kadyrow diese Behauptung aber nie gemacht hat, wollen wir das natürlich auch zeigen.
«Leser haben das Bedürfnis, dass wir die Bilder und Videos verifizieren und einordnen» 
Wie entstand die Idee für den Ukraine-Blog?

Zu Beginn des Krieges hat die Nachrichten-Redaktion Posts aus den sozialen Medien nicht in die Berichterstattung eingebaut. Irgendwann kam die Erkenntnis, dass wir sie nicht ignorieren können, weil dort so viel gepostet und eine grosse Reichweite erzielt wird. Wir haben gemerkt, dass seitens unserer Leserinnen und Leser das Bedürfnis besteht, dass wir diese Bilder und Videos verifizieren und einordnen. Es stand schnell fest, dass wir das in Form eines Blogs machen werden.

Was sind die Herausforderungen bei diesem Blog?
Es kommt vor, dass wir nicht sagen können, ob etwas authentisch ist oder nicht. Das versuchen wir den Leserinnen und Lesern transparent zu vermitteln. Es hat sich auch herausgestellt, dass es sehr viel Arbeit ist, weil es Unmengen an Informationen sind auf den verschiedenen Kanälen und wir ein kleines Team sind. Matthias Chapman verantwortet den Blog, Philippe Stalder, Hannes von Wyl und ich arbeiten daran.
 
Wie sind die Reaktionen der Leserinnen und Leser? Gibt es auch Kritik?
Es gibt viele Kommentare, vor allem wenn es um Videos geht, weil sie aufwühlen und zum Kommentieren veranlassen. Klar hinterfragen Leserinnen und Leser manche Dinge, aber nicht in einer Form, dass wir uns angefeindet fühlen. Es ist ja nicht so, dass wir Stellung beziehen. Wir sind der Objektivität verpflichtet.
 
Welches Fazit ziehen Sie nach den ersten Wochen?
Mein Eindruck ist, dass der Blog bis jetzt recht erfolgreich ist. Das sehen wir anhand der Zugriffe. Man sieht, dass die Menschen ein Bedürfnis haben, die Informationen einzuordnen, weil es eine derartige Flut an Informationen gibt. Wir tun nicht so, als wüssten wir alles. Wenn es uns nicht gelingt, Inhalte zu verifizieren, deklarieren wir das transparent.

«Ich finde es wichtig, Bilder zu zeigen, auf denen Kriegsverbrechen dokumentiert sind» 

Gibt es Grenzen bei der Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine?
Man darf und soll über alles berichten, was von öffentlichem Interesse ist. In einem Fall, den ich selbst erlebt habe, setzten die Ukrainer selbst Grenzen. Bei einem Raketeneinschlag in Lwiw forderten die ukrainischen Behörden uns Journalisten auf, die zerstörten Öltanks vor Ort nicht zu filmen, weil das der russischen Armee helfen würde, die Zerstörung zu lokalisieren. Meiner Meinung nach muss man das akzeptieren. CNN hat trotzdem gefilmt. Ist das von öffentlichem Interesse oder Sensation?
 
Und wie sieht es mit Bildern von Toten aus?
Ich finde es legitim und wichtig, Fotos und Videos zu zeigen, auf denen Kriegsverbrechen dokumentiert sind, auch wenn das, was zu sehen ist, sehr brutal ist. Diese Meinung war zu Beginn des Krieges auf der Redaktion nicht unumstritten. Aber mittlerweile gibt es dazu eine klare Stellungnahme, warum wir gewisse Bilder zeigen und andere nicht.

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Sie sind soeben aus Lwiw nach Wien zurückgekommen. Was haben Sie dort gemacht?
Ich war dort fünf Tage lang mit meinen Kollegen David Nauer von SRF und Thomas Seifert von der Wiener Zeitung. Ich wurde für den Tamedia-Podcast interviewt und habe eine Reportage geschrieben über ukrainische Waisenkinder, die in der Schweiz aufgenommen werden.
 
Lwiw liegt im Westen der Ukraine, etwa 80 km von der polnischen Grenze. Was merkt man in der Stadt vom Krieg?
Man merkt ihn nicht auf den ersten Blick. Man bekommt mit der Zeit aber schon mit, dass das Land im Kriegszustand ist. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Museen und Theater in Flüchtlingszentren umgewandelt sind, an den Kellern Sandsäcke gestapelt und die barocken Kirchenfiguren in Schaumgummi und Plastiksäcke verhüllt sind. Es sind auch viele Soldaten auf den Strassen unterwegs. Und jeden Tag gibt es Luftalarm.
 
Sie waren früher viel als Korrespondent unterwegs. Fehlt Ihnen das nicht?
Es fehlt mir manchmal. Ich war Korrespondent bis 2017, bevor Tamedia die Korrespondentenstellen abgeschafft hat. Ich halte das bis heute für einen Kapitalfehler. Die Korrespondenten von der Süddeutschen Zeitung arbeiten ganz exzellent, keine Frage. Aber sie berichten halt aus deutscher, nicht aus Schweizer Perspektive. Man sieht das Problem in Konfliktsituationen wie jetzt mit dem Ukraine-Krieg. Wenn ich das alles nur vom Schreibtisch aus bearbeite, nur anhand von Internetquellen, ohne mir ein Bild davon vor Ort gemacht zu haben – das finde ich schon sehr schwierig.

«Ich glaube, dass wenige Journalisten aus einem inneren Bedürfnis Pressesprecher werden»

Sie waren von 1999 bis 2000 Pressesprecher bei der OSZE-Mission in Pristina im Kosovo. Wie kam es dazu? 
Ich wollte wissen, wie es ist, in einem Krisengebiet tatsächlich zu leben und nicht nur als Journalist sich für ein paar Tage oder Wochen dort aufzuhalten.

Warum sind Sie in den Journalismus zurückgekehrt?
Ich habe schnell gemerkt, dass ich nicht für Andere schöngefärbte Meldungen formulieren und das kommunizieren will, was von Vorgesetzten gewünscht wird. Ich wollte wieder darüber berichten, was wirklich passiert.
 
Es kommt immer wieder vor, dass Journalistinnen und Journalisten in die Kommunikationsbranche wechseln und dem Journalismus für immer den Rücken kehren. Was treibt sie dazu aus Ihrer Sicht?
Sie sind frustriert, weil es für sie im Journalismus keinen Platz mehr gibt. Das liegt an den Arbeitsbedingungen, die immer schlechter werden, sodass man im Endeffekt nicht mehr das machen kann, was man will. Wenn sie sich mit dem Journalistenjob nicht mehr identifizieren können, machen sie lieber einen Job, bei dem sie zumindest Geld verdienen. Ich glaube, dass wenige Journalisten aus einem inneren Bedürfnis Pressesprecher werden. Meistens sind es Verzweiflungshandlungen. Das wirft ein schlechtes Bild auf den Journalismus.
 
Um den Journalismus steht es in der Schweiz aber immer noch besser als hier in Österreich …
Ich behaupte, der Absturz des Journalismus ist in der Schweiz dramatischer als in Österreich, weil er von einem viel höheren Niveau aus erfolgte. In Österreich war die Bezahlung immer etwas schlechter, auch die Medienvielfalt war viel geringer. In der Schweiz ist die Medienvielfalt in den letzten Jahren enorm eingeengt worden. Trotzdem dürfen wir eigentlich nicht jammern. Die wahren Helden des Journalismus sind Leute, die vor Ort arbeiten, wie aktuell in der Ukraine. Oder Medienschaffende, die in Ländern wie Russland regimekritisch sind. Sie stehen ständig unter Druck, riskieren jederzeit, verhaftet zu werden, und bezahlen manchmal mit ihrem Leben. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist eine Entlassung.


Bernhard Odehnal
ist Mitarbeiter beim Tamedia-Recherchedesk. Er studierte Slawistik und war bis 2017 Korrespondent des Tages-Anzeigers für Österreich und Osteuropa. Er hat mehrere Bücher geschrieben und unter anderem den Zürcher Journalistenpreis gewonnen.



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Kommentare

  • Victor Brunner, 11.04.2022 08:16 Uhr
    Der Öesterreicher Odehnal mit einer klaren Sprache weil er unabhängig ist und nicht am Sessel klebt: "bevor Tamedia die Korrespondentenstellen abgeschafft hat. Ich halte das bis heute für einen Kapitalfehler". So etwas von einem "eingebettteten" und gutbezahlten Journalisten bei TAmedia zu hören, Fehlanzeige. Und immer noch steht im Kopf der Printversion:" Die unabhängige Schweizer Tageszeitung". Humor hat TAmedia noch während der Stolz den Bach runter ist.
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