20.10.2013

Tages-Anzeiger

"Es gibt auch unter den Dozenten ziemlich kreative Köpfe"

Chefredaktor Res Strehle zieht Bilanz über seine Woche als HSG-Dozent.
Tages-Anzeiger: "Es gibt auch unter den Dozenten ziemlich kreative Köpfe"

Herr Strehle, Sie haben vor über 20 Jahren letztmals an der HSG doziert. Inwiefern haben sich die Studenten in der Zwischenzeit verändert?
Die Studenten sind zahlreicher geworden, jetzt studieren an der Universität St.Gallen mindestens doppelt oder sogar dreimal so viele Studenten wie damals, als ich angefangen habe zu dozieren. Zudem ist die Studentenschaft bunter geworden. Es gibt nicht mehr nur zwei Lager wie damals – also die typischen, konform gekleideten HSG-Studenten auf der einen Seite und die 68er auf der anderen Seite –, sondern ganz verschiedene Gruppen. Heute studieren beispielsweise viele ausländische Studenten aus verschiedenen Ländern, nicht mehr nur Deutsche - man hört viel Englisch. Es gibt auch unter den Dozenten ziemlich kreative Köpfe – wohl eine gewisse Annäherung an Harvard.

Sie hielten eine Vorlesung und zwei Seminare, daneben hatten Sie Sprechstunde.
In der Vorlesung sprach ich darüber, wie wir beim Tages-Anzeiger die Zukunft sehen. Die Zusammenführung der Online-Redaktion mit derjenigen von Print zu einer gemeinsamen Redaktion stand im Zentrum. Die anwesenden Studenten schienen mir zwar nicht besonders medienaffin, die Mehrheit studiert Betriebswirtschaft. Doch sie waren mit grossem Interesse dabei und diskutierten auf eine gute Art mit.

Sie hielten demnach keine wissenschaftliche Vorlesung, sondern berichteten aus der Praxis.
Hin und wieder konnte ich Verweise auf theoretische Aspekte einflechten, speziell zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis. Das war ja der Ausgangspunkt unseres Sesseltausches. Mir schwebt ein dialektisches Verhältnis zwischen Theorie und Praxis vor, indem die Wissenschaft ihre Erkenntnisse an der Empirie überprüft und die Empirie sich im Gegenzug an den Einsichten der Wissenschaft orientiert. Dieser, in der Debatte ums "Jahrbuch Qualität der Medien" entstandene Sesseltausch, war für mich viel ergiebiger als erwartet.

Sie sagen, dieser Sesseltausch sei sehr interessant und ergiebig gewesen. Das gilt für Sie persönlich. Doch war bringt diese Aktion nun konkret? Verstehen Sie die Arbeit der Wissenschaft nun besser? Müssten Sie nicht sogar selber forschen, um etwa die Methoden und die Qualitätskriterien des Fög hintergründiger zu verstehen?
Selber forschen oder einschätzen, inwiefern die wissenschaftlichen Kriterien bei Forschungsanlagen eingehalten wurde, können wir nicht. Doch wir können und werden uns vermehrt um die wissenschaftlichen Erkenntnisse kümmern, wenn praxisnahe geforscht wird. Während den Sprechstunden und beim Jour-Fixe-Termin mit den Institutsmitarbeitern erfuhr ich viel über ihre Arbeit, umgekehrt stellte ich an einem Brown-Bag-Lunch unser Vorgehen zur Diskussion. Die Lücke zwischen Empirie und Wissenschaft ist noch immer gross, dies empfinde ich auch, wenn ich das "Jahrbuch zur Qualität der Schweizer Medien" lese. Ich habe die Ausgabe 2012 für mein Referat an der Brückenschlag-Tagung in Solothurn genauer studiert, darin scheinen mir einige Behauptungen recht abenteuerlich. Zu etlichen Behauptungen fehlen jedenfalls die empirisch erhobenen Belege. Das mag mit der speziellen Situation der Sozialwissenschaften zu tun haben, wo die Erkenntnisse nicht unter kontrollierten Laborbedingungen stattfinden. Zudem ist der Forscher selber Teil der erforschten Realität, zum Beispiel Leser mit eigener emotionaler Bindung zu einem Medientitel. Daneben gibt es aber auch in der Empirie ein Theoriedefizit, welches bedingt, dass die Forschungsergebnisse oft nicht verstanden werden.

Wo ist Ihnen ein Licht aufgegangen?
Ich habe viel Interessantes gehört über die Folgen der Zwei-Weg-Kommunikation in den neuen Medien. Journalist und Redaktoren verlieren hier ihre Autorität bis zu einem gewissen Grad, der Leser ist zugleich Themengeber, Kommentator oder gar selber Autor. Da ergeben sich ganz neue Formen der Beteiligung, nicht nur im Medienbereich. Umgekehrt rechtfertigen sich in der aktuellen Entwicklung auch Miriam Merkels Befürchtungen, wonach Spontaneität, Individualität und reale Erfahrungen im Zeitalter des "personalisierten Algorithmus" bedroht sind. Diese Thesen erinnern an den Kulturpessimismus eines Aldous Huxley oder George Orwell. Ich habe diese Zukunftsbilder am Dienstag mit den Studierenden in einem Seminar diskutiert – Miriam Merkels Thesen erhielten viel Zustimmung.

In dieser Woche nutzen Sie Twitter so oft wie bisher noch nie und es gab einen Spezial-Blog "Sesseltausch". War diese Aktion eine willkommene Gelegenheit für Werbung in eigener Person?
Der Austausch bot eine gute Gelegenheit, im Bereich Social Media, in dem wir noch einige Defizite ausweisen, etwas mehr zu wagen und auszuprobieren. Unsere beiden Social-Media-Redaktoren waren in St. Gallen präsent und berichteten laufend auch über den Prozess in der Redaktion unter Miriam Meckels Leitung. Sie haben das sehr gut gemacht, wir haben einige neue Erfahrungen gemacht. 

Wie erlebten Sie die IT-Störung am Dienstagabend?
IT-Zwischenfälle hatten wir verschiedentlich schon erlebt, meist aber nicht in der kritischen Abschlusszeit oder dann waren sie nach kurzer Zeit behoben. Deshalb war ich erst zuversichtlich, als die IT am frühen Abend ausfiel, auf unsere Spezialisten ist in aller Regel hoher Verlass. Doch dann ging stundenlang nichts und natürlich stieg unsere Nervosität. Erhöht wurde sie dadurch, dass wir selber nichts beitragen konnten. Ich verstehe inzwischen jeden Coach der beschreibt, wie schwierig es ist, von der Tribüne aus solche Nervenspiele zu beobachten.

Wie verbrachten Sie den Dienstagabend?
Ich simste und telefonierte laufend mit dem Tagesleiter und besprach mich Ueli Eckstein, dem für uns zuständigen Mitglied der Unternehmungsleitung. Er war es, der die Planung der Notausgabe anregte, die die Redaktion schliesslich realisierte. Es war für uns alle eine unruhige Nacht mit wenig Schlaf, unsere Heldinnen und Helden aber sassen im Newsroom. Und natürlich sind wir auch jenen IT-Spezialisten dankbar, die das Problem kurz nach Mitternacht lösen konnten.

Nun werden Sie am Montag wieder auf Ihrem eigenen Sessel im Tagi-Newsroom Platz nehmen. Nach dieser Woche an der Universität: Worauf freuen Sie sich besonders?
Ich sitze nur dann im Newsroom, wenn ich in der Tagesleitung bin. Aber klar, ich freue mich auf die pulsierende Aktualität, die wache Atmosphäre im Newsroom, da ist jeder Tag anders und auf seine Weise ein Erlebnis. Noch lieber als Nachdenken über die Medien wirke ich bei ihrer täglichen und stündlichen Herstellung mit. Der kluge Satz der alten Römer, wonach eine Erkenntnis nur so viel wert ist, wie ihre praktische Umsetzung zeigt, gilt bis heute: Hier ist Rhodos, hier springe. Getreu diesem Motto werde ich ab Montag wieder in Zürich zu springen versuchen.

Interview: Edith Hollenstein; Bild: @noellekoenig

 

 


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