28.07.2022

Marcel Kohler

«Die Kultur des Überdurchschnittlichen fehlt»

Ende Juli hört Marcel Kohler als langjähriger Geschäftsführer von 20 Minuten auf. Der 62-Jährige blickt auf seine Karriere im operativen Geschäft zurück, äussert sich zu seinen VR-Mandaten in und ausserhalb der Medien – und er sagt, was ihn an der Berichterstattung über Medien stört.
Marcel Kohler: «Die Kultur des Überdurchschnittlichen fehlt»
«Ich bin stolz darauf, dass ich einen Teil dazu beigetragen habe, die Geschäftsleitung und den Verwaltungsrat der damaligen Tamedia von diesen Investments zu überzeugen», sagt Marcel Kohler, seit über 16 Jahren Geschäftsführer von 20 Minuten. (Bilder: 20min/Marco Zangger)

Herr Kohler*, wann haben Sie das letzte Mal jemanden aufs Kreuz gelegt?
(Lacht.) Im Judo meinen Sie wohl?

Genau. Sie gehörten der Nationalmannschaft an …
Das liegt 37 Jahre zurück, habe ich doch im Alter von 25 Jahren mit Judo aufgehört. Wichtig ist mir aber: Jemanden aufs Kreuz gelegt habe ich nur in dieser Sportart. Im Judo nennt sich das «sanfte Gewalt» – man probiert insbesondere auch die Kraft des Gegenübers zu nutzen. Ich habe viel durch diesen fairen Sport gelernt: andere nicht zu verletzen, ausdauernd zu sein, dranzubleiben, Freundschaften zu knüpfen – die bis heute gehalten haben –, zu verlieren und danach wieder aufzustehen sowie zur Einsicht zu kommen, dass es nicht gut ist, wenn man immer gewinnt – im Privat- wie auch im Berufsleben.

Inwiefern?
Eine Beziehung, in der immer eine Person gewinnt, wird nicht dauerhaft sein. Man muss auch verlieren können. Übersetzt auf das Geschäftsleben heisst das beispielsweise: Wenn in einer Kundenbeziehung die eine Seite immer optimiert und die andere immer zurücksteht, ist das auf die Dauer nicht tragfähig. Ob privat oder im Geschäft: Beziehungen müssen in einem Gleichgewicht sein – das habe ich wohl im Judo gelernt.

Am 31. Juli werden Sie zum letzten Mal als Geschäftsführer von 20 Minuten aufstehen. Damit endet Ihre langjährige Zeit im operativen Geschäft. Was löst das bei Ihnen aus?
Natürlich kommt Wehmut auf, es wäre komisch, wenn dies nach 16-jähriger Tätigkeit bei 20 Minuten nicht der Fall wäre. Mit Überzeugung darf ich sagen: Ich bin jeden Tag mit Freude zur Arbeit für 20 Minuten gegangen. Nebst Wehmut spüre ich aber auch Demut.

Wie meinen Sie das?
So lange und bis im Alter von 62,5 Jahren Geschäftsleiter einer Medienmarke zu sein, ist in unserer Branche doch eher unüblich. Dass ich meinen Rücktritt vor mehr als 1,5 Jahren selbstbestimmt ankündigen konnte und bis heute das Vertrauen auf allen Ebenen spüre, macht mich demütig.

«Ich werde selbstverständlich nicht den Kardinalsfehler machen, meinem Nachfolger reinzureden»

In den letzten Tagen Ihrer Tätigkeit hatten Sie es noch turbulent. Sie mussten in Sachen Chefredaktor Gaudenz Looser vor das Team treten. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Ich hätte mir natürlich einen schöneren Anlass gewünscht, um vor die Mitarbeitenden zu treten. Was jedoch schön war: Ich habe in den Reihen der Mitarbeitenden auf allen Stufen eine grosse Loyalität gegenüber Gaudenz Looser und 20 Minuten als Arbeitgeberin gespürt. Das Team ist durch die Angelegenheit näher zueinander gerückt. 

Ist die Sache nun gegessen oder gibt es noch ein Nachspiel?
Die Posts sind gelöscht und wir stehen mit der Mitarbeiterin nach wie vor im Austausch. Ich bin guter Dinge, dass die Angelegenheit damit erledigt ist. 

Vor 20 Minuten waren Sie über 20 Jahre für die NZZ tätig. Wie blicken Sie dem Ende Ihrer langjährigen Karriere als Medienmanager entgegen?
Ich hatte Zeit, mich darauf vorzubereiten. Wie es mir am 1. August tatsächlich geht, weiss ich natürlich nicht (lacht). Es gehört aber zum Leben, loszulassen.

Ganz loslassen können Sie jedoch nicht. Sie haben vier VR-Mandate angenommen – darunter drei in der Medienbranche.
Ich habe immer viel gearbeitet, von 140 auf null runterzufahren, wäre nicht gut gewesen. Ich habe mich bei keinem Mandat angeboten, sondern bin stets angefragt worden. Daraus schliesse ich auf die Hoffnung der Gremien, dass ich einen Mehrwert schaffen kann – das ist auch mein Anspruch.

Als neuer VR-Präsident der Wemf müssen Sie zwar künftig neutral sein. Dennoch: Wann schafft es 20 Minuten zurück auf den Thron bei den Printleserzahlen und verdrängt die Schweiz am Wochenende von Platz 1?
20 Minuten ist die Nummer 1 in der Schweiz.

Die Wemf-Zahlen sprechen eine andere Sprache …
in der Deutschschweiz. Ich spreche von der ganzen Schweiz, in der die 20-Minuten-Gruppe am meisten Leserinnen und Leser im Bereich Print und Online hat und seit April 2022 auch im Storyclash-Ranking in den sozialen Medien die Nase vorn hat. Ich habe grossen Respekt vor der Schweiz am Wochenende der CH Media und ich will ihren Erfolg in der Deutschschweiz keinesfalls schmälern. Dabei handelt es sich allerdings um ein Regionalzeitungskonglomerat, bei dem immer wieder neue Titel und damit Leserinnen und Leser dazukommen.

Sie wurden zum Verwaltungsrat von 20 Minuten gewählt, wie diesen Monat bekannt wurde. Wollen Sie Ihren Nachfolger Bernhard Brechbühl kontrollieren?
(Lacht.) Das ist eine gute Frage. Verwaltungsratspräsident Pietro Supino begrüsst es, dass mein Know-how weiterhin vertreten ist. Ich werde selbstverständlich nicht den Kardinalsfehler machen, meinem Nachfolger reinzureden und zu erklären, wie es geht – dafür verbürge ich mich. So wie ich Bernhard Brechbühl kenne, empfindet er es nicht als Bürde, dass ich im VR bin. 

«20 Minuten ist zu einem Produkt geworden, das auch in der 1. Klasse gelesen wird»

Des Weiteren sind Sie VR der Meier + Cie, welche die Schaffhauser Nachrichten herausgeben. Bald übernehmen Sie ein weiteres Mandat bei AsFam, die sich für die Entschädigung pflegender Angehörigen einsetzt. Was hat Sie zu diesem Mandat – ausserhalb der Medien – bewogen?
Ein guter Freund hat erlebt, dass die Pflege von Angehörigen zur Belastung werden kann – nicht nur psychisch, sondern auch finanziell. Ein anderer Freund hat die Firma vor eineinhalb Jahren gegründet. Ich war zuletzt an einem Anlass der AsFam dabei, an dem sich pflegende Angehörige und Gepflegte getroffen haben – das bringt einen in eine völlig andere Welt. Die Firma unterstützt Menschen in schwierigen Situationen. Ich freue mich, hier einen Beitrag zu leisten.

Beim Start von 20 Minuten im Jahr 1999 waren Sie bei der NZZ, bei der das Pendlermedium nicht ernst genommen worden sei – eine Ansicht, die damals auch Sie geteilt haben, wie Sie später gegenüber persoenlich.com gesagt haben. Was hat Ihre Meinung geändert?
Ende 1999, Anfang 2000 herrschte die Meinung vor, dass es in einem Jahr 20 Minuten nicht mehr geben würde. Die Antwort gegeben hat das Pendlermedium selbst, das sich schnell entwickelt hat. 2005 hat mir Tamedia-CEO Martin Kall den Job als Geschäftsführer angeboten, was mich sehr glücklich gemacht hat – denn ich war mittlerweile überzeugt, dass 20 Minuten ein starkes Produkt ist.

Welche Entwicklung hat Sie von 20 Minuten überzeugt?
Als Pendler hatte ich im Zug festgestellt, dass immer mehr Leute eine 20-Minuten-Ausgabe in ihren Händen hielten. 20 Minuten ist zudem zu einem Produkt geworden, das auch in der 1. Klasse gelesen wird. Das ist mir wichtig zu betonen, denn es wird nicht jedes Medium im Zug gelesen. Meine Wahrnehmung war, dass 20 Minuten mit der Zeit in allen Gesellschaftskreisen auf Akzeptanz gestossen ist. Ich habe es bereits während meiner Zeit bei der NZZ gelesen. Dort gehörte ich früh zu jener Fraktion, die überzeugt war: Die 20-Minuten-Verantwortlichen machen eine andere, aber ebenso gute Publizistik.  

Als 2003 die Möglichkeit bestand, 20 Minuten des norwegischen Konzerns Schibsted zu erwerben, hat sich nicht nur Tamedia, sondern auch die Neue Zürcher Zeitung interessiert. Warum hat die NZZ damals darauf verzichtet? 
Ich war nicht Teil des obersten Führungsgremiums. Ich weiss aber, dass der damalige Verlagschef Willy Schib, der mein Chef war, das für eine gute Idee gehalten und sich dafür stark gemacht hat. In welchem Verhältnis sich die Geschäftsleitung und der Verwaltungsrat dagegen entschieden haben, weiss ich nicht – aber 20 Minuten war ein Thema bei der NZZ.

Wie hat sich die Wahrnehmung von 20 Minuten in der Branche seit Ihrem Einstieg verändert?
Erstens, dass es von immer mehr Personen gelesen wurde. Den zweiten Wandel zeigte die mittlerweile eingestellte Wemf-Studie «MA Leader», die die NZZ über Jahre als Medium ausgewiesen hat, das am meisten Führungskräfte erreicht. Später wurde sie von 20 Minuten abgelöst. Es gab aber noch andere Schritte, welche das Bild von 20 Minuten verändert haben.

«Die negativen Berichterstattungen über 20 Minuten haben viel mit Neid zu tun»

Nämlich?
Wir waren 2008 das erste Newsmedium, das eine App lanciert hat. Das war ein Meilenstein. Auf Online zu setzen, später auf Mobile First, dann auf Bewegtbild und jetzt auf Social Media First – all diese Schritte waren Risiken, die 20 Minuten früh eingegangen ist.

Begründet diese Risikobereitschaft den Erfolg von 20 Minuten?
Das hat sicher dazu beigetragen. Zentral ist aber sicher das Geschäftsmodell: 20 Minuten war ein «Gamechanger» – eine Gratiszeitung, die in Boxen an Bahnhöfen aufliegt, das gab es zuvor nicht in der Schweiz. Entscheidend war weiter der Expansionswille: Wir sind nicht nur viel früher als die anderen Medien in die Westschweiz (2006) und ins Tessin (2011) gegangen, sondern haben auch den Schritt ins Ausland gewagt: nach Österreich und Luxemburg, wo wir sehr erfolgreich sind. Im Gegensatz dazu sind wir in Dänemark wohl zu spät eingestiegen, weshalb unser Modell nicht nach unseren Vorstellungen funktioniert hat. 

Sie haben es bis zum Medienmanager des Jahres 2015 geschafft. Worauf sind Sie am meisten stolz?
Ich bin stolz darauf, dass ich einen Teil dazu beigetragen habe, die Geschäftsleitung und den Verwaltungsrat der damaligen Tamedia von diesen Investments zu überzeugen – und dass sich 20 Minuten so gut entwickelt hat. Hätte man vor 20 Jahren gesagt, dass die 20-Minuten-Gruppe jemals 200 Journalistinnen und Journalisten in der Schweiz beschäftigen wird, wäre man für verrückt erklärt worden.

In einem persoenlich.com-Interview haben Sie gesagt, dass Sie sich darüber ärgern, wie Medien über Medien schreiben. Was stört Sie?
Es gibt nach wie vor eine Fraktion, die 20 Minuten mit ihrem Gratismodell für den Niedergang des Journalismus verantwortlich macht. Ich finde diesen Vorwurf absurd.

Fanden Sie die Berichterstattung über 20 Minuten demnach unfair?
Hier der Qualitätsjournalismus dort 20 Minuten: Es ist eine verzerrte Wahrnehmung, wenn man sagt, dass es im Journalismus nur eine Qualität gibt und 20 Minuten keine hat. Denn 20 Minuten leistet mit seinem kompakten, verständlichen und ideologiefreien Journalismus einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft. Mittlerweile bin ich der Meinung, dass die negativen Berichterstattungen viel mit Neid zu tun haben. In der Schweiz gibt es keine Kultur des Überdurchschnittlichen.

«Journalistinnen und Journalisten sind nicht gut im Über-die-Medien-Schreiben»

Wie meinen Sie das?
Wenn man Print und Online zusammenzählt, ist die Position von 20 Minuten im Nutzermarkt in der Schweiz überragend. Hierzulande wird kritisiert, wer überdurchschnittlich ist. Ich finde die Kritik an 20 Minuten undifferenziert, deshalb nützt es häufig nichts, sich zu erklären. Natürlich machen auch wir Fehler, darunter auch solche, die man nicht machen sollte. Ich stelle aber fest, dass die kritischen Stimmen leiser geworden sind.

Was stützt diese These?
Ich zitiere gerne folgendes Beispiel: Arthur Rutishauser, Chefredaktor der Redaktion Tamedia und der SonntagsZeitung, hat sich im Vorfeld der Abstimmung über die Medienförderung für ein Ja ausgesprochen. Redaktor Edgar Schuler hat bei diesem Pro und Contra für ein Nein argumentiert – und dabei das Modell 20 Minuten als Beleg hingezogen, dass sich Medien transformieren und den Bedürfnissen des Markts anpassen können.

Was ärgert Sie sonst noch am Medienjournalismus?
Journalistinnen und Journalisten sind nicht gut im Über-die-Medien-Schreiben.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Muss ein Medienunternehmen 30 Angestellte einer Druckerei entlassen, wird mit ein paar wenigen Zeilen darüber berichtet. Sind zwei Journalisten von einer Entlassung betroffen, werten dies die Berichterstatter als Untergang des Unternehmens. Diese verzerrte Bubble-Wahrnehmung von Journalistinnen und Journalisten der eigenen Branche irritiert mich. Etwas möchte ich aber noch festhalten.

Bitte.
Wie es im Communitybereich unverbesserliche Kommentarschreiber gibt, die alles besser wissen, gibt es auch ein paar Journalistinnen und Journalisten, die so ticken – glücklicherweise sind dies die Ausnahmen. Insgesamt erfreue ich mich am guten Journalismus in der Schweiz.

Zum Schluss nochmals zum Sport: 2016 sind Sie den New York Marathon gelaufen. Was folgt als Nächstes?
Der Berlin Marathon im kommenden Jahr. Ich habe einen Verbündeten im Geschäft, der das auch machen möchte. Unabhängig auf welchem Niveau, toll am Sport ist: Wenn man zu trainieren beginnt, macht man schnell Fortschritte. Ich kenne keine Disziplin im Leben, in der das schneller gelingt. Insofern ist Sport mit vielen Glücksmomenten verbunden – nun möchte ich mir wieder ein solch schönes Gefühl bescheren.


*Der Schaffhauser Marcel Kohler lancierte seine Laufbahn in der Schweizer Medienbranche als Verkäufer beim Bock in Schaffhausen. Nach drei Jahren wechselte er zur NZZ, für die er während 20 Jahren als Anzeigenleiter und stv. Verlagsleiter tätig war. 2006 wechselte er zu 20 Minuten, wo er seit über 16 Jahren als Geschäftsführer wirkt. 2015 wurde er zum Medienmanager des Jahres gekürt.


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KOMMENTARE

Stefan Bernet
08.08.2022 09:18 Uhr
Mit Marcel Kohler verlässt eine unglaublich starke Persönlichkeit die Branche, zumindest auf der operativen Ebene. Er hat zwei der wichtigsten Medien Marken während Jahren geprägt. "Das verdient grössten Respekt, lieber Marcel". Wer das Vergnügen hatte mit ihm zusammenzuarbeiten, weiss wovon ich spreche.
Duke Seidmann
28.07.2022 09:10 Uhr
Zwischen Schaffhauser Bock und NZZ warst Du auch mal noch bei der ofa, wo wir uns kennengelernt haben. Seither gingst Du einen beeindruckenden, erfolgreichen und rundum glaubwürdigen Berufsweg! Und das in einer Branche, in welcher der Schein so oft das Sein überstrahlt. Chapeau! Alles Gute zum nächsten Lebensabschnitt, Marcel!
Maja Ziegler
28.07.2022 08:21 Uhr
Mit Marcel Kohler tritt eine charakterstarke und wahrhaftige Unternehmerpersönlichkeit zurück. Persönlichkeiten von seinem Format sind in der Branche dünn gesät. Es gibt vor allem Erben oder Spezies der Inhaber, Wendehälse, Schleimer und Partyhengste. Für sein Wirken und Schaffen zolle ich ihm Respekt und Wertschätzung. Möge er den Lebensabend bei bester Gesundheit geniessen können.
Robert Weingart
28.07.2022 03:27 Uhr
„Wichtigen Beitrag für die Gesellschaft“: Wenn er daran glaubt, dann gute Nacht.
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