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Bei Corona-Toten bleiben die Medien zu still

Edith Hollenstein

Ein Bus überschlägt sich auf einer Autobahn entlang dem Zürichsee: fünf Verletzte, sieben Personen sterben. Stellen Sie sich vor, was für Schlagzeilen, wie viele Onlineartikel, TV- und Radiobeiträge das zur Folge hätte. Das Unglück wäre am Folgetag auf der Frontseite jeder Schweizer Zeitung. So wäre das in normalen Zeiten.

Momentan jedoch sterben täglich nicht einfach «nur» sieben, sondern rund 50 bis sogar über 100 Menschen an der Corona-Pandemie – also etwa so viele, wie wenn ein Flugzeug abstürzte. Doch waren diese Opfer in den letzten Tagen je das Hauptthema einer «Tagesschau» oder im «Echo der Zeit»? Oder die oberste Schlagzeile auf einer Zeitungsfront? Nein. Die grossen Schweizer Tageszeitungen etwa brachten in den letzten Tagen die Impfungen gross, Belegung der Intensivbetten, daneben den Fernunterricht oder Masken-Bussen. Die Redaktionen verliehen der Hilfe für den Profisport Gewicht und schrieben Schlagzeilen zu den Corona-Toten in den USA, Pandemiebewältigungsstrategien und über die Zukunft der Spitäler.

Manche würden hier einwenden, die Corona-Verstorbenen könne man nicht mit einem Verkehrsunfall vergleichen, denn es handle sich vor allem um Menschen, die sehr alt waren. Auch an Krebs oder Herzinfarkten stürben Leute, trotzdem seien sie nie Thema in den Medien. Das mag sein. Dennoch erstaunt die Priorisierung der Medien in dieser Krise. Man liest viel mehr über vom Konkurs bedrohte Läden oder Bars als über die menschlichen Opfer dieser Pandemie. «So leise sie sterben, so ruhig bleibt es um die Toten in der Politik, den Medien und in der Öffentlichkeit», schreibt die NZZ am Sonntag in einem der wenigen Artikel, der vom Sterben handelt. In der Schweiz seien in den letzten 14 Tagen 849 Menschen an der Pandemie gestorben, heisst es im Artikel. Dass die NZZaS das Schicksal dieser Menschen und ihrer Angehörigen thematisiert, die unter sehr besonderen Umständen trauern müssen, ist wichtig. Auch Schilderungen, wie diejenige einer Risikopatientin in der Republik, helfen, dass sich die Leute der individuellen Konsequenzen bewusst werden. Und inzwischen hat auch «10vor10» realisiert, dass dieses Thema in den letzten Tagen untergegangen ist, und am Donnerstag im Aufmacher-Beitrag über ein überlastetes Walliser Krematorium berichtet.

Bei der Suche nach den Gründen für diese Zurückhaltung stellen sich vor allem folgende Fragen: Gibt es zu wenige Informationen über die Verstorbenen und ihre Angehörigen oder keine Bilder? Sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer geschont werden respektive will man Panik verhindern? Haben die Redaktionen Hemmungen, über Corona-Verstorbene zu berichten? Liegt der Grund im täglichen Bulletin des Bundesamts für Gesundheit, das jeweils die Infektionszahlen priorisiert? Oder in den «Points de Presse» aus Bern, bei denen eher über Spitalkapazitäten oder Wirtschaftshilfen informiert wird, während die Todesfallzahl fast schon nur beiläufig erwähnt wird? Oder hat die Nachricht von 50 oder 111 Corona-Verstorbenen bereits keinen journalistischen Nachrichtenwert mehr?

Vermutlich spielen mehrere dieser Faktoren eine Rolle. Wichtig ist wohl auch die abstrakte, naturwissenschaftliche Art und Weise, mit der unsere Gesellschaft gegen das Coronavirus kämpft. Wie die NZZaS in ihrem Artikel schreibt, wird dieser Kampf in Fallzahlen, R-Werten, Belegungsquoten, Verdoppelungswerten und so weiter geführt. «Und auch das Sterben wird in der Pandemie oft einfach nur in Zahlen ausgedrückt. Nur zeigen die lange nicht alles, was sich dahinter abspielt.»

Auch wenn es eine schwierige Gratwanderung ist: Es wäre wichtig, dass die Schweizer Medien nach einem Weg suchen, auf einfühlsame, menschliche Art und Weise diese Todesfälle und die schwierigen Umstände für die Hinterbliebenen zu thematisieren – ohne den Skandal zu suchen oder Panik zu schüren.



Edith Hollenstein ist Redaktionsleiterin von persoenlich.com

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Kommentare

  • Walter Wyser, 27.11.2020 14:56 Uhr
    Der Artikel zu den Corona-Toten mag weitgehend stimmen. Aber es gibt Ausnahmen. Die "Thurgauer Zeitung", deren Abonnent ich bin, berichtete in ihrer Ausgabe von Mittwoch 28. November auf den markanten Seiten 2 und 3 über fünf Corona Schicksale in aller Ausführlichkeit. Der Artikel berührt sehr und macht das Drama Corona Pandemie beispielhaft erfahrbar.
  • Marcus Knill, 20.11.2020 18:50 Uhr
    Zum Blog von Edith Hollenstein über die Coronatoten: Treffend geschrieben. Ist inhaltlich nichts beizufügen. Vor allem den Schlussgedanken mit der Gratwanderung unterstreiche ich. Erfolgreiche Kommunikatoren zeichnen sich dadurch aus, dass sie Gegensätze unter einen Hut zu bringen verstehen. Bei vielen Kommunikationsprozessen gilt es, die Balance zwischen Gegensätzen zu finden. M.K.
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