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Das Opfer

Marlis Prinzing

Die umstrittene Bloggerin und promovierte Historikerin Marie Sophie Hingst wurde tot aufgefunden. Ihre Geschichte wirft viele Fragen auf – auch zur Verantwortung von Medien. Denn sie hat eine Geschichte über ihr Leben erfunden, der sie offenbar zum Opfer fiel.

Marie Sophie Hingst stammte aus Wittenberg, studierte unter anderem in Berlin Geschichte, schrieb am Trinity College in Dublin eine Doktorarbeit über englische Kolonialgeschichte und arbeitete als Projektmanagerin bei Intel Ireland. Seit vielen Jahren erarbeitete sie sich mit einer Opfergeschichte in öffentlichen Auftritten und auf ihrem Blog «Read on my dear» Prominenz und erreichte schliesslich fast eine Viertelmillion Menschen. Ihnen erzählte sie, Nachfahrin einer jüdischen Familie zu sein, von der mehrere Mitglieder dem Holocaust zum Opfer gefallen seien. Sie meldete die Namen von 22 vermeintlichen Holocaust-Opfern dem Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, erzählte in vielen Vorträgen von ihrer jüdischen Vergangenheit, verglich deren Leiden mit jenem heutiger Geflüchteter und setzte noch die Story obendrauf, sie habe mit 19 Jahren gemeinsam mit einem Freund ein Slum-Krankenhaus in Neu-Delhi gegründet und dort indischen Männer sexuelle Aufklärung angeboten. Hingst erreichte hohe Medienaufmerksamkeit; sie schrieb – teils unter Pseudonym – für Zeit Online und Frankfurter Allgemeine; Deutschlandfunk Nova, Bayern 2 und SWR3 nahmen ihre Geschichten für bare Münze; sie wurde zur «Bloggerin des Jahres 2017» gekürt.

Dieses Frühjahr änderte sich alles. Weil Hingsts Darstellungen Widersprüche enthielten, forschten in Stralsund, von wo ihre Familie hauptsächlich stammte, Archivare nach Belegen. Auch die auf Personenrecherchen spezialisierte Historikerin Gabriele Bergner aus Teltow bei Berlin recherchierte mit einem Team nach, was an den Geschichten dran war. Wenig, stellte sich heraus. Zum Beispiel war Hingsts Grossvater kein Auschwitz-Häftling, wie sie erzählte, sondern evangelischer Pfarrer; und die meisten der von ihr nach Jerusalem gemeldeten Holocaust-Opfer haben gar nie existiert. Auch die Indien-Geschichte war falsch.

Bergner wandte sich an den «Spiegel», offenbar auch weil Hingst sich von ihren Versionen nicht abbringen liess. Ein «Spiegel»-Reporter konfrontierte Hingst mit den Vorwürfen und machte im Juni dieses Jahres öffentlich, dass sie sich ihre Lebensgeschichte grossteils ausgedacht habe. Das löste viele Diskussionen aus, ihr wurde die Blogger-Auszeichnung aberkannt. Ihr Blog ist nicht mehr erreichbar. Medien, die ihr Geschichten abgenommen hatten, nahmen diese vom Netz. Zurück bleiben Fragen.

Erstens: Wie sollten Journalistinnen und Journalisten mit Menschen umgehen, die offensichtlich die Öffentlichkeit in die Irre geführt haben? Sie müssen dies öffentlich machen. Denn das Publikum kann nur so erfahren, dass es getäuscht wurde. Das auch im Pressekodex festgelegte Gebot der Wahrhaftigkeit verlangt solche Aufklärung von glaubwürdigem Journalismus. Das liegt aber nicht nur im eigenen medialen Interesse, sondern ist in diesem Fall auch nötig, weil die falsche Version ein Schlag ins Gesicht aller «echten» Holocaust-Opfer ist und weil die historische Wahrheit solche Aufklärung verlangt.

Daran schliesst sich als weiterer Auftrag an, die Recherchesorgfalt sehr hoch zu halten und gerade auch bei Opfer-Geschichten zu hinterfragen, ob das, was einem aufgetischt wird, stimmt. Just Opfer eher zu «schonen», indem man ihnen manche kritische Frage erspart, ist verlockend – und die «Causa Hingst» ist bei weitem nicht der einzige Fall, wo das auf einen Holzweg führte. Als ihre Fantasien aufflogen, hat die Bloggerin offenbar keine Lebensperspektive mehr für sich gesehen. Darüber ist im Netz eine Kontroverse entbrannt.

Das führt zur Frage zwei: Welche Verantwortung tragen Journalisten für die Folgen ihrer Berichterstattung? Entscheidend sind die öffentliche Relevanz des Themas – in diesem Fall die Publikumstäuschung – und die Solidität der Recherche. Beides ist offenbar zumindest in der «Spiegel»-Enthüllungsgeschichte gegeben: Der Reporter hat Maria Sophie Hingst mit den Vorwürfen vorher konfrontiert und referierte in seinem Text, dass sie zunächst abwehrend reagiert habe und dann ihren Anwalt mitteilen liess, das sei Literatur – also quasi nicht der Faktentreue voll verpflichtet.

Pflichtethisch betrachtet, also gemäss dem Auftrag, wahrheitsgetreu zu informieren und Betroffenen bei schweren Vorwürfen Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äussern, ist diese Berichterstattung verantwortbar. Auch folgenethisch lässt sich zugunsten einer Veröffentlichung argumentieren, auch um zu zeigen, dass uns nicht gleichgültig sein darf und soll, ob eine Geschichte als wahr dargestellt wird, die es aber nicht ist.

Verantwortungsethisch betrachtet lässt sich sagen: Wenn ein Thema öffentlich relevant ist und wenn handwerklich professionell vorgegangen wird, wie dies hier der Fall ist, dann ist es nicht der Verantwortung von Journalisten zuzuschreiben, wie eine betroffene Person reagiert, wenn ihr Fehlverhalten öffentlich bekannt wird. Wenn also Maria Sophie Hingst sich entscheidet, so nicht mehr leben zu wollen, ist das in ihrer eigenen Verantwortung.

Frage drei lenkt das Augenmerk auf Menschen in Sondersituationen. Müsste man in solchen Fällen anders vorgehen? Die Bloggerin, die laut Bericht der «The Irish Times» schon am 17. Juli tot aufgefunden wurde, hat anscheinend auf den Reporter dieser Zeitung den Eindruck gemacht, sie sei psychisch krank; deshalb habe er über die erfundenen Storys nicht berichtet. Der «Spiegel»-Reporter, der sie offenbar vorher getroffen hatte, gewann einen anderen Eindruck.

Aber nicht das ist der entscheidende Punkt. Denn die Verpflichtung, die Publikumstäuschung offenzulegen, besteht selbst dann, wenn anzunehmen ist, die Person sei psychisch krank. Wenn dies eindeutig gewesen wäre, besteht zudem eine bestimmte Berichterstattungssorgfalt. Doch zumindest klar erkennbar war dies offenbar nicht, da ja viele Hingsts Geschichten lange Zeit nicht anzweifelten.

Was bleibt? Die Geschichte der Maria Sophie Hingst markiert wahrhaft eine menschliche Tragödie. Sie handelt von einer Frau, die in die Rolle des Opfers schlüpfte und sich so Anerkennung und eine öffentliche Bühne verschaffte. Sie erfand sich ein Leben, für das sie Dokumente fälschte, um es zu belegen, darüber wohl vergass, was wahr war – und so tatsächlich zum Opfer wurde, zum Opfer ihrer eigenen Erfindungen.


Die Autorin vertritt ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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