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Der Kunde ist tot, lang lebe der Mensch

Thomas Ruck

In meinem letzten Blog hatte ich geschrieben, dass eine gute Customer Experience (CX) heute kein Alleinstellungsmerkmal mehr ist und erfolgreiche Unternehmen sich viel ganzheitlicher als Business of Experience definieren. Mit anderen Worten: eine Fokussierung auf die CX greift zu kurz.

Das wäre aber eine Verharmlosung. Denn: Ist Ihnen auch aufgefallen, woher dieser Fokus auf CX überhaupt kommt? Von einer Obsession mit «dem Kunden»: «Der Kunde hat immer Recht», «Der Kunde ist König», «Wir brauchen guten Kundenservice», «Wir müssen kundenzentrisch sein und denken», «Wir brauchen Customer Journeys». Und, natürlich: eine gute «Customer Experience». Die Frage ist nur: Will der Kunde das alles?

Wenn Marken mit Personen lediglich als nächstes «kaufendes Objekt» kommunizieren, dann bleiben Marken ewig Verkäufer und deren Zielgruppen für immer nur Käufer. Diese Personen sind aber viel mehr als «Käufer». Und die Frage, für welche Produkte und Dienstleistungen sie Geld ausgeben sollen, nimmt nur einen kleinen Teil ihres Alltags ein; ihr Leben ist voll von anderen Dingen und Erfahrungen. Wir verspüren Leidenschaft, begeistern uns, wir lieben, sind überrascht, manchmal auch enttäuscht, mal voller Hoffnung und mal endlos frustriert.

So ist es denn auch keine Überraschung, dass die von uns befragten Menschen sagen, dass ihnen emotionale Treiber genauso wichtig sind wie rationale Beweggründe, wenn es darum geht, sich einer Marke anzuvertrauen. Die Aussage «Ich will wie ein Mensch, und nicht wie ein Kunde behandelt werden» steht sogar an zweiter Stelle ihrer emotionalen Kaufgründe. Und das wird künftig nicht besser: 68 Prozent der Gen X und gar 78 Prozent der Millennials suchen eine tiefere Beziehung mit Marken, verglichen mit nur 54 Prozent der Baby Boomer. Demgegenüber steht die heutige «Leistung» der Marken: Nur 19 Prozent aller Befragten sagen, dass sie von diesen als Menschen ernst genommen werden; und gar lediglich 13 Prozent stimmen überein, dass Marken eine Beziehung aufbauen wollen, die über Produkte und Dienstleistungen hinausgeht.

Da stellt sich die Frage: Wie konnte das alles nur so schief gehen?

Indem wir im Einsatz unserer Werbemassnahmen immer effizienter werden und aus jeder Kundeninteraktion mehr Mehrwert herauspressen möchten, lassen Marken oft Menschlichkeit, Empathie und Authentizität vermissen. Wir haben so ein Ungleichgewicht zwischen Kommerz und der Lebensrealität der Menschen geschaffen: die Human Experience Gap.

Diese «Lücke» gilt es zu überwinden; und das gelingt, indem wir verbundene Markenerlebnisse schaffen, die Kommerz und Alltag auf eine geschickte Art und Weise vereinen. Die Stunde der «Human Experience» – ein kluges Gleichgewicht aus emotionalen und rationalen Botschaften und Handlungen – hat geschlagen. So finden Marken und Menschen wieder zueinander.

Und wie genau schaffen wir das?

In sieben Schritten:

1 – einen gelebten, übergeordneten Unternehmenszweck, bei dem es um mehr als nur um das Unternehmenswohl geht. Paradebeispiel: Patagonia – «We're in business to save our home planet.»

2 – menschliche Mitarbeiter, die Fehler auch mal auf der Stelle, aufrichtig und unzimperlich geradebügeln können und dürfen: Paradebeispiel: Ritz Carlton – und die Entscheidungsbefugnis ihrer Concierges

3 – vernetzte Kreativität; ein vollständig durchgängiges Markenerlebnis: Paradebeispiel: Nespresso – verlässliches Erlebnis des Markenkerns in Boutiquen, Onlinekanal, POS in Fachmärkten, Club und Call Center.

4 – gegenseitige Beziehungen; die Verbindung von funktionalem mit emotionalem Nutzen führt zu einem Gefühl der Verwandtschaft. Paradebeispiel: Tesla – je mehr ich mit meinem Tesla fahre, desto mehr tue ich, was mir persönlich und der Marke (und nicht der Unternehmensbuchhaltung) wichtig ist: meinen CO2-Fussabdruck minimieren.

5 – individuelle Markenpersönlichkeit an jedem Touchpoint; so werden selbst vermeintliche «Standards» zu berührenden Erlebnissen. Paradebeispiel: Air New Zealand – und ihr Sicherheitsvideo 2014.

6 – dauerhafte Relevanz über Generationen hinweg dank kontinuierlicher Innovation. Paradebeispiel: Lego – mit immer aktuellen Themen-Sets haben die im Kern unveränderten Plastikbausteine die Herzen ihrer jungen Fans stets aufs Neue erobert.

7 – die Endstufe: die Marke wird zum unverzichtbaren Begleiter durchs Leben. Paradebeispiel: Ikea. Der schwedische Möbelhersteller verbindet Design, Nachhaltigkeit, Innovation und Pragmatik so geschickt miteinander, dass die Marke für viele Menschen zum Lebensgefühl geworden ist.

Die wichtigste Erkenntnis: Marken sollten sich so verhalten, als ob zwei Menschen miteinander umgehen. Das bedeutet: Wir erinnern uns an die Menschen, die «gut» sind, und wollen mehr Zeit mit ihnen verbringen; aber wir erinnern uns auch an die «schlechten» Menschen. Mit diesen vermeiden wir den Kontakt so weit es geht. Auch wenn es sich über sie manchmal schneller zum Ziel kommen liesse.

Wir tun also gut daran, die Customer Experience nicht auf das «Kunde-Werden» oder «Kunde-Sein» zu reduzieren. Dafür hilft es, aus bekannten Denkmustern auszubrechen. Weg mit B2C und B2B, hin zu B2H. Weg von CX, hin zu HX.

Denn: Der Kunde ist tot. Lang lebe der Mensch.



Thomas Ruck ist Managing Director bei Accenture Interactive.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

 

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Kommentare

  • Jan Strasser, 24.02.2021 18:45 Uhr
    Wie wahr! Allerdings fehlt mir noch ein Punkt: Passende Kunden-Use-Cases. Wie oft stellt man fest, dass ein Unternehmen bzw. eine Marke total andere Menschen, andere Gewohnheiten, andere Lebenssituationen im Blick hat als die eigenen. Man möge dies "Empathie" nennen – oder einfach nur Sorgfalt und Differenzierungsvermögen beim Nachdenken über Zielgruppen, pardon: Menschen.
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