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Der talentierte Mr. Kachelmann

Roger Schawinski

Klammheimlich wird Jörg Kachelmann – so wie ich ihn seit Jahrzehnten kenne – richtig stolz auf sich sein. Wenn schon ein Skandal, dann soll es bitte der grösste sein. Wenn schon alle Grenzen gesprengt werden, dann nur mit ihm als Protagonisten. Und wenn er sich im grossen Spiegel-Interview als «Viertklassprominenten » beschreibt, unterstreicht er diese Erkenntnis. Denn natürlich will er, der begnadete Menschenfischer, jeden Leser mit diesem nach den unzähligen Titelgeschichten völlig unglaubwürdigen Bescheidenheitsanfall auf seine Seite ziehen. Kaum hatte er sich von der medienwirksam inszenierten Umarmung mit seinem Knastwärter befreit, gibt er grandiose Interviews, wie sie kein Zweiter hinkriegt. Der talentierte Mr. Kachelmann mit dem dokumentiert widerlichen Lebenswandel, der als pathologischer Lügner immer auf seinen eigenen Vorteil aus ist, versucht sich nun mit unschuldigem Augenaufschlag als pingeliger, gesetzestreuer Mitbürger in die Herzen vor allem der Frauen zurückzustehlen, die er so systematisch betrogen und missbraucht hat. Der ganze Fall ist grotesk. Auf der einen Seite eine gesichtslose Anklägerin, auf der anderen ein prominenter Angeklagter, der fleissig Interviews gibt. Dafür weigert dieser sich standhaft, sich einem Gutachter zu stellen. Dies muss hingegen die Klägerin tun, von der man dank der 150 Seiten starken psychiatrischen Begutachtung unglaublich viel Intimes erfahren konnte. Und damit sind wir bei der Rolle der Medien. Auch hier geschieht Aussergewöhnliches. Es ist nicht allein die unglaubliche Publizität, die die Causa Kachelmann erfahren hat. Es sind auch nicht die brisanten Details, die diese Geschichte dank den langjährigen pausenlosen Aktivitäten des Hauptdarstellers hergibt. Es ist die neue, bisher ungewohnte Rolle, welche die Medien einnehmen. Denn es wird nicht nur recherchiert und berichtet, nun ergreift man klar Partei. Dabei ist bemerkenswert, dass sich die seriösere Presse, von Spiegel bis zur Zeit, klar auf die Seite Kachelmanns geschlagen hat, indem sie sich vor allem auf das ihr von der Verteidigung nur selektiv zugespielte Gutachten Greuel stützt, das die Klägerin in ein äusserst schlechtes Licht stellt. In der Schweiz ist die Weltwoche ebenfalls auf diesen Zug aufgesprungen. Es wirkt so, als ob man sich bei diesen Blättern durch den klaren Positionsbezug die Legitimation sichern wollte, ganz ausführlich über diese süffige, auflagenträchtige Boulevardgeschichte zu berichten. Auf der Gegenseite stehen die eigentlichen Boulevardmedien wie Bunte und Focus, die ohne Bedürfnis einer solchen moralischen Legitimation voll vom Leder ziehen und sich dabei vor allem von der Truppe der ehemaligen Geliebten und der Staatsanwaltschaft bedienen lassen. Und so hat die Presse ihre Funktion in gefährlicher Weise ausgeweitet: Sie hat nicht nur informiert, nein, sie hat klar Stellung bezogen. Bereits vor Prozessbeginn haben einzelne Medien bereits entschieden, ob Kachelmann schuldig sei oder nicht. Dieser Übergriff ist äusserst problematisch, denn auch das Gericht wird sich von dieser Form der Debatte beeinflussen lassen, selbst wenn dies verneint wird. Und damit hat Kachelmann viel mehr erreicht, als die elektronische Wetterprognose zu revolutionieren. Er hat es geschafft, die Medien zu kontaminieren. Und wahrscheinlich ist er selbst darauf noch mächtig stolz.
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