BLOG

Die abendliche letzte Runde

Edith Hollenstein

Am Mittwochabend habe ich eine Frau sterben sehen. Eine 44-jährige Trump-Anhängerin schied vor meinen Augen aus dem Leben. Ich hatte gerade etwas Ruhe, setzte mich mit dem Smartphone aufs Sofa, wo ich bei einer abendlichen «letzten Runde» durch die Schweizer Newswebsites realisierte, was gerade in den USA ablief: Trump-Unterstützer stürmten in Washington das Capitol.

Blick.ch hatte Blick TV prominent platziert – dort lief CNN, dazu Einschätzungen von Publizist Hannes Britschgi. In SRF-Play lief weiterhin «Mona mittendrin» (etwas später, bei «10vor10», gab es dann einen Fokus zum Thema), darum schaute ich bei 20 Minuten vorbei. Das Portal hatte einen News-Ticker mit Text und Fotos vom Chaos. Weil die Schweizer Newsportale seit einigen Monaten stark auf Bewegtbild setzen, hatte auch 20 Minuten weit oben den Player von Zattoo eingebunden. So hätte ich – wie bei Blick TV –  auch via 20 Minuten CNN schauen können. Doch das klappte aus technischen Gründen nicht. Also klickte ich auf das im 20-Minuten-Artikel nächstverfügbare «Play»-Zeichen und landete innert Millisekunden mitten im aggressiven Tumult. Das erste, was ich sah: eine Frau etwa in meinem Alter, reglos am Boden, den Hals blutüberströmt. Jemand schrie: «Sie haben sie getötet. Mein Gott, sie ist tot!» Bilder, die ich nie mehr vergessen werde. Ebenso bleibt der Eindruck, dass diese Demonstranten ähnliche Ziele erreicht haben wie Terroristen: möglichst viel Aufmerksamkeit für ihre Taten.

Die 20-Minuten-Redaktion in Zürich wollte wahrscheinlich möglichst nah vom Schauplatz in Washington berichten, hatte jedoch keine Korrespondentin vor Ort und entschied deshalb, den Liveticker mit einem YouTube-Livestream von Trump-Anhängern anzureichern, die ihre Erstürmung des Abgeordnetenhauses per Smartphone dokumentierten (siehe Screenshots unten). Dass im Stream plötzlich eine sterbende Frau in Nahaufnahme zu sehen sein wird, hatte die Redaktion wohl nicht erwartet, sonst hätte sie diesen Stream niemals eingebunden – denn solche Bilder zu veröffentlichen, widerspricht der journalistischen Berufsethik.

IMG_2036



IMG_2038




IMG_2037

20 Minuten, das reichweitenstärkste Medium der Schweiz, ist also dafür verantwortlich, dass ich diese Bilder gesehen habe. Denn wenn ich wissen will, was passiert, mache ich meine «Runde» bei den journalistischen Newsportalen. Direkt auf YouTube zu gehen, gehört dabei nicht zu meiner Gewohnheit.

Auch soziale Medien tragen eine Mitschuld. Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Algorithmen verstörendes Material rechtzeitig erkennen. Mittlerweile, rund zwölf Stunden später, ist der Stream «Washington DC live» nicht mehr auffindbar. Wenn derzeit oftmals Facebook und Twitter für die zunehmende Radikalisierung und Abstumpfung verantwortlich gemacht werden, ist das sicher richtig. Man muss hier aber auch die Rolle von YouTube respektive von Google hinterfragen.



Edith Hollenstein ist Redaktionsleiterin von persoenlich.com

Kommentar wird gesendet...

Kommentare

  • Daniel Curchod, 08.01.2021 05:54 Uhr
    Der Kommentar von Herrn Brunner bestätigt eigentlich nur die These, dass die Gesellschaft am verblöden ist. Und das, leider, nicht zu letzt von genau so sensationsgebriebenen, um jeden Preis "Likes" erhasschenden, Medien. Das ist für mich weder Journalismus, noch hat es einen Informationsgehalt, nein, es ist nur noch eine aneinanderreihen von, wie sagt es Herr Brunner so schön, "geilen" Schlagzeilen, auf die die Menschen anspringen, so wie die Gaffer auf der Autobahn, die an einem Unfall vorbeifahren.
  • Victor Brunner, 07.01.2021 16:02 Uhr
    Wie wäre es mit Eigenverantwortung? Niemand wird gezwungen auf solchen Portalen rumzuzappen, auch kann frau innert Bruchteilen wegzappen. Gratisportale müssen „geil“ sein, sie müssen Clicks generieren, auch mit verstörenden Bildern!
Kommentarfunktion wurde geschlossen

Die neuesten Blogs

13.04.2024 - Hansmartin Schmid

Die Schweizer Medien und die Kriege

Die Schweizer Auslandberichterstattung ist in deutsche Hände geglitten.

12.04.2024 - Klaus-Dieter Koch

Attraktivität braucht Kontrolle

Warum Hermès, Rolex und Co ihre Marken nicht an jeden verkaufen können.

Zum Seitenanfang20240419