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Edelfedern: "Wenig recherchieren, Ornamente und Schwurbel"

Roger Schawinski

Sie sind die Zierde jeder Redaktion – und sie wissen es haargenau. Denn nur ganz selten taucht in der Journalisten-Heerschar jemand auf, der das Talent zur aussergewöhnlichen Schreibe hat. Seine Artikel fallen auf, da diese Storys so ganz anders sind als die Vielzahl der schmucklos hingeworfenen Stücke. Edelfedern liest man nicht in erster Linie wegen der Inhalte, sondern wegen ihrer kunstvollen Form. Und damit sind wir beim Problem. Denn irgendwie kommen die beiden Dinge nie recht zusammen. So sind akribisch recherchierende Journalisten selten Meister der Sprache. Umgekehrt widmen sich die Edelfedern vor allem ihren Formulierungen, weil sie sich damit auszeichnen wollen. Wie aber gelangt man zu journalistischen Bestleistungen? Die Washington Post hat das Problem nicht nur erkannt, sondern begann vor einiger Zeit mit einem interessanten Experiment. Man schuf dort einen Pool von Edelfedern und Toprechercheuren und erhofft sich so eine neue Spitzenqualität. In der Schweiz war Niklaus Meienberg die schweizerische Edelfeder par excellence. Das war ihm bewusst, und deshalb pochte er penetrant auf seinen Edelfeder-Sonderstatus. Korrekturen an seinen Meisterwerken durch irgendeinen weniger sprachmächtigen Redaktor quittierte er jeweils mit Zornesausbrüchen. Auch Margrit Sprecher, während Jahrzehnten gehätschelte Edelfeder bei der Weltwoche, lieferte wunderbar komponierte Artikel ab, deren Fehlerquoten meist im kaum mehr tolerierbaren Bereich lagen. Aber das tat ihrem Ruf bei Chefredaktoren und Preiskomitees keinen Abbruch. Geblendet von der Macht der Formulierungen sanken diese Sprachfetischisten allesamt vor ihr in die Knie. Tom Kummer kultivierte den Edelfeder-Status am exzessivsten. Unzufrieden mit den laschen Antworten der Hollywood-Prominenz veredelte er seine faden Aussagen mit eigenen Worten, bis er zur Effizienzsteigerung gar keine Interviews mehr führte. Die auf diese Weise entstandenen Texte lasen sich so hervorragend, dass die von der Brillanz der Sprache faszinierten Chefredaktoren lange keinen Versuch unternahmen, die Faktenlage infrage zu stellen. Oder wie sagt die korrupte Hauptfigur im Mafia-Epos «Boardwalk Empire»: «Don’t let facts get in the way of a great story.» Constantin Seibt vom Tages-Anzeiger ist heute die wohl meistgelesene Edelfeder des Landes. Mit einer gehörigen Portion Chuzpe erläuterte er sein journalistisches Prinzip bei der Wahl der Schweizer Journalisten des Jahres: «Wenig recherchieren, wenig schreiben, Ornamente und Schwurbel». War das etwa gar ein Geständnis und damit mehr als eine locker hingeworfene Provokation? Jedenfalls zeichnen sich die Texte von Seibt damit aus, dass er sich oft journalistischer Quellen bedient, die er nicht benennt, sondern als eigene Recherchen präsentiert. Und in einem Ganzseiter zum Thema Bankenmoral zitierte er vor einiger Zeit einen anonymen Banker mit einer Vielzahl von witzigen, gescheiten und hintergründigen Einsichten, wie sie noch kein anderer Schweizer Journalist von einem namentlich vorgestellten Banker vorzeigen konnte. Diese anonymen Zitate waren so gut, dass sie beinahe an die geschliffenen Interviewantworten in einem Tom-Kummer-Text heranreichten. Sie veredelten einen Edelfedertext, der sich als geistreiches, elegant komponiertes Kunstwerk las. Und dank Seibts Geständnisses weiss man nun zusätzlich, wie das Ganze wohl zu deuten ist. Und ein Risiko, dass jemand klagen könnte, man habe ihn falsch zitiert, besteht in einem solchen Fall wohl auch keines.
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