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Eine Lehrstunde in Journalismus

Roger Schawinski

Okay, wahrscheinlich hätte es diese Knüllerstory nicht ganz auf den Titel der "Weltwoche" geschafft. Dazu wäre das bei diesem Blatt übliche geklaute Polizeifoto nötig gewesen, mit dem man die Öffentlichkeit über die verlogene Vergangenheit eines weiteren Schweizer Promis auflageträchtig schockiert hätte. Ich kann diesen Fall hier exklusiv aufdecken – denn es geht um mich. So erreichte mich am Dienstag, den 25. Februar, um 16.04 folgendes Mail von "Weltwoche"-Redaktor Andreas Kunz: "Ein aufmerksamer 'Weltwoche'-Leser hat uns geschrieben, dass Sie im Talk mit Peter Müller gesagt hätten, Ihre Marathon-Bestzeit liege bei 3 h 30 min." Als er dies kontrolliert habe, sei er jedoch nur auf eine Bestzeit von 3 h 31 min 58 sec aus dem Jahr 2001 gekommen … "Gerne möchte ich Ihnen Gelegenheit geben, die Diskrepanz zu kommentieren. Ein Zitat müsste ich bis spätestens 19 Uhr haben." Als ich dies las, erzitterte ich. Das von Roger Köppel einst als "Souffleur des intelligenten Tischgesprächs" propagierte Magazin war drauf und dran, meine grosse Lebenslüge aufzudecken. Der Skandal um 1 Minute 58 Sekunden würde meine während Jahrzehnten aufgebaute Glaubwürdigkeit hinwegfegen. Im Zeitalter von Plagiatsjägern und Dopingbetrüger Lance Armstrong ist ein solches Vergehen offenbar als so gravierend einzustufen, dass die Köppel’schen Toprechercheure auch hier unbedingt knallharte Aufdeckungsarbeit liefern müssen. Ich blickte auf meine Uhr und erschauderte: Die mir grosszügig gewährte Gnadenfrist war bereits um 45 Minuten überschritten! Würde es mir trotzdem gelingen – anders als Philipp Hildebrand, Peter von Matt, Res Strehle und viele mehr –, den Kopf noch aus der Wewo-Schlinge zu ziehen? Schweissüberströmt googelte ich meine letzten Marathonzeiten und stiess – oh Wunder – auf Boston 2001 und mein Resultat: 3 h 27 min 27 sec. Um 19.59 teilte ich dies dem Inquisitor des Wochenblatts mit, der mir um 20.23 antwortete, damit sei die Geschichte gestorben. Diese Groteske ist nicht meine einzige aktuelle Erfahrung mit der "Weltwoche", die durch ihre Strehle-Kampagne wieder eine heftige Diskussion über die Grenzen des zulässigen Journalismus ausgelöst hat. Auch hier geht es um einen Vorfall, der an Banalität unmöglich zu übertreffen ist. So wurde ich dafür gerügt, ein Spiel der Kloten Flyers aus einer Loge heraus besucht zu haben, ohne dies mit einer Spende an den Klub begleitet zu haben. Dies sei deshalb besonders schäbig, so der Vorwurf, weil ich zuvor die Kloten-Retter Philippe Gaydoul und Thomas Matter in einer "SonntagsZeitung"-Kolumne als "Geldsäcke" bezeichnet hätte. Als ich Roger Köppel in einem Mail darauf aufmerksam machte, dass ich diese Bezeichnung, die er zweimal in Anführungszeichen gesetzt hatte, gar nicht verwendet hatte, schrieb er mir zurück: "Das Wort 'Geldsäcke' ist sinngemäss gemeint, und die Anführungszeichen sind entsprechend gesetzt … Wie du aber weisst, kann man Anführungszeichen auch so verwenden, dass sie eine sinngemässe Wortwahl anzeigen." Ich staunte, denn ich hatte nach über vierzig Jahren in diesem Beruf etwas wahrhaft Revolutionäres erfahren, nämlich dass sich die "Weltwoche" offenbar gewohnheitsmässig das Recht nimmt, Zitate zu fabrizieren, die man "sinngemäss" in einem Text gefunden hat. Das erleichtert das Handwerk natürlich ungemein, weil man so hervorragend Geschichten zuspitzen kann, für die die notwendigen Zitatbeweise fehlen. "Von einer Fälschung kann also keine Rede sein", fügte Roger Köppel an. Also hatte ich einen wirklichen Erkenntnisgewinn erzielt. Über besonders heisse Storys. Über die Regeln dieser Form von Journalismus. Und den unerträglichen Unfug, den diese Leute absondern und uns damit belästigen.
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