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Ethik im Fadenkreuz

Die Berichte über sexuelle Gewalt an Silvester in Köln haben einen Streit ausgelöst, bei dem auch der Deutsche Presserat in die Schusslinie geraten ist. Er trage durch eine Richtlinie im Pressekodex dazu bei, dass etliche Medien die Nationalität der Täter von Köln verschwiegen haben, verlange also Selbstzensur und sei eine Instanz, die die Wahrheit unterdrücke und bevormunde.

Tatsächlich offenbart der Streit die Dringlichkeit einer Grundsatzdebatte mit drei Stossrichtungen, die in der Schweiz ebenfalls überfällig ist: Die Medienbranche muss sich erstens besinnen auf einen zeitgemässen, medienethischen Kompass; zweitens müssen Medienprofis den Pressekodex kennen und drittens sollten Medien das sich in der aktuellen Kontroverse spiegelnde wachsende Interesse der Gesellschaft an dem, wie Journalisten berichten, im positiven Sinn nutzen.

Im Fadenkreuz

Zunächst waren Journalisten im Fadenkreuz des Publikums. Weil manche Medien zunächst nicht oder zurückhaltend über die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht berichtet hatten, unterstellten viele Menschen den Journalisten, dass sie sich nicht trauten, kritisch über Flüchtlinge zu berichten, und fanden, man könne ihnen auch deshalb nicht mehr glauben. Diesen Vorwurf – besonders auch gegen Service public-Medien – erhoben nicht nur jene, die seit langem «Lügenpresse» schrien.

Dann drehten ausgerechnet etliche Chefredakteure den Spiess um und richteten ihn auf den Presserat und eine Richtlinie aus dessen Pressekodex: «die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten» werde «nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht».

Diese Richtlinie 12.1 bedeute Selbstzensur und sei ein Zeichen dafür, dass man die Leser für unmündig halte; sie müsse abgeschafft oder zumindest überarbeitet werden; ein Chefredaktor wird zitiert, der Pressekodex sei ein «regelrechter Verhaltenskatalog», den er für übel halte.

In solcher Art von Kritik spiegelt sich ein fatales Missverständnis darüber wider, was ein ethischer Kompass ist. Dieses muss dringend aufgelöst werden, wenn sich die Branche nicht selbst das Rückgrat brechen will.

Was ist Ethik? Was ist ein Kodex?

Ethik setzt moralische Vorstellungen einer Gesellschaft um in Empfehlungen für konkretes, verantwortungsbewusstes Handeln; sie beschreibt immer den Raum des Gebotenen – anders als das Recht, das sich auf Verbote ausrichtet. An dessen Ende steht eine bewusste Entscheidung, wie auf eine konkrete Situation möglichst angemessen reagiert werden kann. Weil man aber dann, wenn eine solche Entscheidung ansteht, meistens rasch sein muss und nicht erst einmal Rat bei Philosophen suchen kann, haben sich viele Berufe einen Kodex gegeben.

Der Pressekodex ist dementsprechend ein ganzer Handwerkskasten, gefüllt mit diversen Richtlinien beziehungsweise Instrumenten für ethisch orientiertes Handeln. Sie bevormunden nicht, verbieten nicht und weisen nicht an, sondern helfen: ein Kodex ist letztlich ein Service-Katalog aus Vorabüberlegungen. Der Kodex ist kein fettes Bündel – in Deutschland umfasst er 16, in der Schweiz zehn Punkte.

Aber man sollte wissen, was darin steht oder ihn rasch zur Hand haben. Wenn Medienethik in vielen Lehrplänen von Journalistenschulen und von Journalismus-Studiengängen weiterhin ein Schattendasein fristet und in Redaktionen und ganz offensichtlich auch in Medien-Führungsetagen zuweilen nicht sehr präsent ist, wächst die Verunsicherung. Genau das hat letztlich auch den Streit um die Berichterstattung nach den Ereignissen von Köln befeuert, den gerade Medien schlicht hätten schlichten können: In dem sie ihre Berichterstattung differenzierter abgewogen und genau dies ihrem Publikum entlang des Kodex transparent erklärt hätten. Kurz: Die Berichterstattung nach der Kölner Silvesternacht offenbarte Lücken in der Ethik-Kompetenz.

Konkret ging es unter anderem um die Vermutung, dass die Täter, die sexuell übergriffig waren, nordafrikanischer Abstammung sind. Da empfiehlt zwar besagte Richtlinie 12.1 im deutschen Kodex Zurückhaltung, denn die Straftat, in diesem Fall der sexuelle Übergriff, ist nicht notwendig beispielsweise mit einer bestimmten Religion oder Herkunft verbunden.

Momentan kommen aber viele Menschen verschiedener Religionen und Ethnien als Flüchtlinge nach Deutschland. Dadurch verstärken sich Ängste, aber auch Zuschreibungen, die Klischees bestätigen. Wegen dieser aktuellen Stimmung hätte ich es besser gefunden, wenn im Fall von Köln in vielen Berichterstattungen eine andere Richtlinie des Pressekodex, die «wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit» (Richtlinie 1) über die Richtlinie zur Diskriminierung gestellt worden wäre.

Was nicht hilft, ist Schweigen. Oder sich, wie ja leider zudem geschehen, darauf zurückziehen, dass die Polizei noch keine Pressemitteilung herausgegeben hat. Journalisten können und sollen auch selber recherchieren und ihrem eigenen Augenschein trauen, was freilich einige getan haben.

Was, wenn Vergleichbares in Zürich oder Bern geschehen wäre? Der Schweizer Kodex enthält ebenfalls eine Richtlinie zum Diskriminierungsverbot, bezieht dieses aber nicht wortwörtlich auf Straftaten, sondern verlangt, «den Informationswert gegen die Gefahr einer Diskriminierung» abzuwägen und die Verhältnismässigkeit zu wahren. Also im Kern steht dort in einer Richtlinie (8.2) dasselbe, was sich im deutschen Kodex erst aus der Kombination von zwei Richtlinien ergibt.

Das heisst auch: Die in die Kritik geratene Richtlinie aus dem deutschen Kodex ist als solche keineswegs falsch oder überholt. Auch deshalb ist grossartig, dass der Deutsche Presserat am vergangenen Mittwoch nach einer Expertenanhörung entschied, den Diskriminierungsschutz im Pressekodex beizubehalten. Er bekräftige damit den Auftrag an jeden professionell arbeitende Journalisten, besonders bei allen heiklen Themen verschiedene Berichterstattungsmöglichkeiten bewusst abzuwägen, ehe veröffentlicht wird.

Lehren – nicht nur aus Köln

Grossartig ist aber vor allem, dass diese Debatte erstens den Pressekodex als Handlungsrichtschnur ins Scheinwerferlicht rückte und klar machte, dass der Kodex stets «Work in Progress» ist, über das andauernd zu diskutieren ist, nämlich darüber, ob Richtlinien ausreichen oder ob sie verändert werden müssen. Sowohl der deutsche als auch der Schweizer Kodex vernachlässigen zum Beispiel bislang geradezu fahrlässig Aspekte der digitalen Ethik.

Zweitens macht die Debatte deutlich, dass das Medienpublikum sich durchaus für Medienthemen interessieren lässt. Viele Medienhäuser – in Deutschland wie in der Schweiz – haben lange Zeit als Grund vorgeschoben, dies sei nicht der Fall und deshalb den Medienjournalismus, also die konstruktiv-kritische Beobachtung von Medien, weitgehend eingespart.

Das erweist sich jetzt als Bumerang, kann aber auch zur Chance werden: Dann nämlich, wenn gerade der oft sehr medienskeptische Tonfall in den jetzigen Diskussionen dazu anstachelt, künftig systematisch dem Publikum zu vermitteln, nach welchen Kriterien eine Redaktion entscheidet, wie sie über ein bestimmtes Thema berichtet. Nebeneffekt: Das Publikum erfährt auch einiges, was es selber in der Rolle als publizierendes Publikum anwenden kann.

Daran knüpft der dritte und letzte Punkt an. Die deutsche Medienselbstkontrollinstanz wird von Verlagen und Gewerkschaften getragen und müsste sich dringend dem Publikum öffnen, wie dies der Schweizer Presserat längst macht, wo sechs der 21 Mitglieder Vertreter des Publikums sind und keine Medienberufe ausüben. Darüber müsste die Debatte rasch und mindestens so dringlich geführt werden wie jetzt über die Diskriminierungsrichtlinie.

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KOMMENTARE

Christoph Bopp
14.03.2016 11:16 Uhr
"Ethik setzt moralische Vorstellungen einer Gesellschaft um in Empfehlungen für konkretes, verantwortungsbewusstes Handeln; ..." - ich weiss nicht, ob es gut ist, wenn man mit einem solchen "Ethik"-Verständnis operiert. Zielt in die Richtung der vielen "Bindestrich-Ethiken" (unter anderem Medien-Ethik), die auch fragwürdig sind. Moralische Überzeugungen der Gesellschaft (hiess bisher: Anstand oder Sitte) sind ja oft Ausgangspunkt moralischer Probleme, die sich als Dilemmata äussern: Die öffentliche Moral (oder was sich dafür hält) verlangt das, meine moralische Überzeugung verlangt etwas anderes. (Mein Gewissen, weil ich so und so sozialisiert wurde .... etc.) Welche morlaischen Prinzipien konfligieren hier? Das zu klären, wäre Ethik. Das klassische Feld halt. "Medien-Ethik" ist dann wie "Unternehmens-Ethik" (oder ähnliche Gebilde): Man soll auch als Journalist und Unternehmer ein verantwortungsbewusster, moralisch sensibler Mensch sein (und nicht bewusst und unnötig diskriminieren; oder betrügen und mit fragwürdigen Praktiken irgendwas "optimieren"). Insofern finde ich gut, was der Beitrag zu Kodices und dergleichen sagt. Vorauseilende Vorsicht (e.g. political correctness) ist das ein moralisches Problem? Welche Disziplin müsste die Frage prüfen? Die (philosophische) Ethik? Oder die Kommunikationstheorie? Ob ich jetzt die Nationalität der Angehörigen des Silvester-Mobs angegeben müsste oder nicht, weiss ich jetzt allerdings immer noch nicht.
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