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Plädoyer für «20 Minuten»

Matthias Ackeret

Es gab eine Zeit, da war für mich «20 Minuten» ein hervorragendes Marketingprodukt, mehr aber nicht. Bis mir die damals 14-jährige Tochter meiner Ex-Freundin, eine überzeugte «20 Minuten»-Leserin, in wenigen Worten, aber äusserst präzise, die aktuelle Weltlage beschrieb und mich als passionierten Tagi- und NZZ-Leser in Schwierigkeiten brachte. In jenem Moment realisierte ich, dass «20 Minuten» auch ein geniales Medienprodukt darstellt, wobei man mit dem Wort «genial» eigentlich sparsam umgehen sollte.

«20 Minuten» ist reduce to the max. Und vielleicht beruht sein Erfolg auch darauf, dass es nie mehr sein wollte als «20 Minuten» und keinen Anspruch auf die Lobpreisungen der Medienwissenschaftler erhob, die es höchstwahrscheinlich auch nie erhalten wird. Es ist – und dies tönt paradox – eine grosse Leistung der jeweiligen Chefredaktoren und Verlagsleiter wie beispielsweise Marco Boselli oder Marcel Kohler, dass sie aus «20 Minuten» nie mehr machen wollten, ein Pendlerblatt, das man in 20 Minuten durchgelesen hat. Die Pendlerzeitung «Metropol», die vor zwanzig Jahren in der Schweiz praktisch zeitgleich startete und vom späteren SRF-Chefredaktoren Ueli Haldimann geleitet wurde, hatte journalistisch weitaus höhere Ambitionen. Und musste 2002 den Betrieb einstellen. Was erstaunlich war, da das Mutterhaus «Metro» in Skandinavien die ersten Pendlerzeitungen lancierte.

Als «20 Minuten» startete, galt es als «Schmuddelblatt» im klassischen Sinn. Ein Prädikat, das zumindest ein Garant für Langlebigkeit darstellt. Heute kann man – salopp formuliert – froh sein, dass die junge Generation mit «20 Minuten» zumindest noch eine gedruckte Tageszeitung konsumiert.

Es war aber keineswegs so, dass «20 Minuten» von Anfang Erfolg hatte. Wenige Monate zuvor hatte die Gratiszeitung «ZüriWoche» ihren Betrieb eingestellt. Es ist – rückblickend gesehen – das Verdienst des norwegischen Verlagshauses Schibsted und des verstorbenen Investors Ernst Müller-Möhl, Initiant Sacha Wigdorovits, Verlagsleiter Rolf Bollmann und dem ersten Chefredaktor Urs Weber und dessen Redaktion, dass das Blatt die ersten drei schwierigen Jahre überhaupt überstand. Es war auch nicht so, dass sich die Anzeigekunden am Anfang um das Blatt gerissen hätten. Als Schibsted für ihre Auslandexpansionen nach Spanien und Frankreich zusätzliches Geld benötigte, bot sie ihren Schweizer Ableger verschiedenen Verlagshäusern und Investoren an. «20 Minuten» war zur damaligen Zeit bereits hochrentabel. Ringier, der eigentliche Wunschkandidat, unterlag im Bieterkampf. Tamedia hingegen biss nach einer brutal-genialen Drohkulisse des damaligen CEOs Martin Kall zu. Und gab der Erfolgsstory – mit Rolf Bollmann an Bord – einen weiteren Anschub. «20 Minuten» war für Tamedia genau das richtige Produkt zur richtigen Zeit – und auch ein finanzieller Glücksfall.

Ich mag mich noch gut erinnern, wie ich im Sommer 1999 mit Sacha Wigdorovits als TeleZüri-Reporter nach Schwarzach ins Voralbergische fuhr, um die erste Druckerei von «20 Minuten» zu besichtigen. Mit Mühe konnte ich die Story bei der morgendlichen TeleZüri-Redaktionssitzung durchdrücken und ohne die permanenten Anrufe von Sacha hätte ich sie auch kaum gemacht. Was ich aber sah, beeindruckte mich, obwohl das Wort «20 Minuten» in den anderen Medien sehr zurückhaltend erwähnt wurde. Wenige Tage später schwärmte auch mein damaliger Chef Roger Schawinski vom neuen Zeitungskonzept. Mir schwante, dass man als VJ vielleicht schon bald auch noch Zeitungsartikel schreiben und Fotos machen sollte. Doch soweit kam es nicht. Aber die Kreise schliessen sich, aus Schawinskis Radio Planet 105 mit Marc Jäggi als Programmleiter wird schon bald das «20 Minuten»-Radio.

Der Start von «20 Minuten» war übrigens ein Fiasko, das sich kurz danach als Glücksfall erwies. Am 13. Dezember warteten die Journalisten am Bahnhof Stadelhofen auf die ersten «20 Minuten»-Exemplare. Doch diese erschienen nicht, der Lastwagen aus dem Vorarlbergischen war in einen Unfall verwickelt. Verlagsleiter Bollmann fürchtete bereits um seinen Job. Als um 9 Uhr die Zeitungslieferung endlich in Zürich eintrafen, waren die meisten Journalisten schon wieder weg. Dafür hagelte es in allen Medien Spott und Häme. Mit einem winzig kleinen Vorteil: der Name «20 Minuten» war lanciert.

Jetzt – 20 Jahre später – feiert «20 Minuten» seinen zweiten runden Geburtstag. Das ist viel in dieser schnelllebigen Zeit und eine beachtliche Leistung. Und vielleicht der beste Beweis, dass sich Beharrlichkeit auch auszeichnet. Happy birthday!



Matthias Ackeret ist Verleger und Chefredaktor von «persönlich».

 

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