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Schon wa.ch?

Inken Rohweder von Trotha

Ich will kein Geld ausgeben für das Buch eines Mannes über Männer, von dem ich annehme, dass ich es nach allgegenwärtiger Berichterstattung schon kenne, so, wie wenn man einen Hollywood-Blockbuster-Trailer bis zum Ende geschaut hat. Deswegen habe ich mit meinem Gratisguthaben die vom Autor gelesene Hörversion von «Noch wach?» runtergeladen. Wenig später bin ich so begeistert, dass ich gerne einen Moet zum Gangplatz meines Swiss Code Share Fluges von Hamburg nach Zürich bestellte. Diesen schlürfte ich dann andächtig, in Ermangelung eines echten Glases und unter Zuhilfenahme des zufällig mitgeführten silbernen Trinkhalmes von Robbe & Berking, was angesichts der Druckverhältnisse auf 10’000 Metern jedoch womöglich nicht so gut funktionierte. Ausserdem trinkt Benjamin von Stuckrad-Barre heutzutage ja auch nur noch Saft.

Seinem Gehirn scheint das vorangegangene Zuviel des Guten und Schlechten nichts Schlimmes angetan zu haben, ausser vielleicht die Sache mit den GROSSBUCHSTABEN, die man im Hörbuch glücklicherweise nicht bemerkt. Ich entdecke sie parallel im Text-Auszug seines neuen Buches, den der Spiegel, ein bekanntes deutsches Nachrichtenmagazin, nebst dem Porträt des Schriftstellers auf der Titelseite(!), abgedruckt hat. Ein bisschen Lästern gehört dazu, als Deutsche und Schweizerin, aber Deutschland ist grösser und lauter und diesmal nicht nur im negativen Sinn, denn immerhin hat sich dort gerade mal niemand schwarz angemalt und knochenschwingend behauptet, das dürfe man ja wohl noch tun.

Mir gingen zu dem vor Kurzem diskutierten Vorfall, der sich auf hiesiger Abendveranstaltung zugetragen hatte, zunächst ein paar praktische Fragen durch den Kopf: Wo erhält man hautverträgliche schwarze Farbe oder bedient man sich – so wie früher – noch der Schuhcreme? Ist der Knochen echt? Ist die ausserdem vorgeführte portugiesische Nutte eine in Teilzeit arbeitende Schweizer Hausfrau? Trägt der schwule Mann statistisch gesehen öfter regenbogenfarbige Oberteile als der Rest der Bevölkerung? Wieso fehlten Behinderte bei «dem kleinen Spass»? Gab es keinen Rollstuhl-Zugang? And so on.

Mehr als ein kurzes kollektives Schulter- und/oder Zusammenzucken löste die Angelegenheit anscheinend nicht aus. Heute in der Sonntagszeitung sprechen wir längst von was anderem. Vielleicht wird die Zeit für eine gesellschaftliche Weiterentwicklung landesweit nie «reif», so wie sie es im ansonsten unauffälligen Höngg für die Aufnahme von Frauen in die Zunft «noch nicht» ist.

In Deutschland rumpelt es unterdessen. Der unverbesserliche KT Guttenberg hat «Noch wach?» weggelegt, ohne es gelesen zu haben, und erzählt das jedem. Wenigstens hat er es nicht verbrannt. Dem Stuckrad-Barre-Interview folgt im Spiegel ein Text über ein vorbildlich nicht nachahmenswertes deutsches Ehepaar. Sie hat ein Druck-Erzeugnis über «alte weise Männer» verfasst, dessen Einleitungstext mit echten gefühlten Fakten aufwartet, braun auf weiss. Nach dem Artikel fällt der Blick auf die Anzeige für ein weiteres Buch: «Deutschland, deine Kolonien». Das kann kein Zufall sein, da kriege ich wirklich das Gefühl, in Deutschland ginge was. Irgendwas.

Zurück in Stuckrad-Barres Kopf. Bis zum bisher erlebten Kapitel 54 möchte ich den Autor heiraten, obwohl ich schon verheiratet bin und er auf dem Titelfoto des Spiegels rüberkommt wie ein Psychopath. Ausserdem spricht er das P in «American Psycho» im Hörbuch mit, was ich jedoch bestimmt total süss finde, denn er ist schliesslich vielleicht ein Genie und kann deswegen gar nicht auf alles achten.

Genies sind oft Männer, die auf den Seychellen Bücher schreiben, während Schriftstellerinnen in Höngg oder anderswo die Wäsche machen, Kinder zum Fussball bringen, kurz was schreiben, Essen kochen und insgesamt ungenial rüberkommen, wenn sie als Mutti auf dem Spielplatz von irgendwem dabei gesehen werden. Dies wurde so ähnlich gerade wieder einmal sehr treffend von einer deutschen Journalistin bemerkt (@mareicares). Wenn Mutti es doch mal geschafft hat, was zu veröffentlichen – also Frauenliteratur, jedenfalls keine Männerliteratur – dann hat das bei einem Literaturwettbewerb selbstverständlich die gleichen Chancen auf einen Preis – solange es inhaltlich um Männer geht. Das habe ich mir nicht ausgedacht.

Im Fall von «Noch wach?» ist das doppelt kein Problem. Und die grosse, die gesellschaftliche Aufgabe hinter all dem ist nicht Stuckrad-Barres – so kommt es bisher rüber, ohne dass ich es nicht gut finde. Denn den Text an sich, den finde ich grossartig. Um alles andere kümmere ich mich ab morgen wieder.


Inken Rohweder von Trotha arbeitet als Kreative bei wervt.com. Sie ist Vorstandsmitglied des ADC Switzerland. (Bild: Mirjam Kluka)

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