Wir alle hegen eine gewisse Faszination für die Möglichkeiten der KI — und fürchten uns gleichzeitig ein bisschen vor ihr. Umso dringlicher ist die Frage: Was hebt uns Journalistinnen und Journalisten aus Fleisch und Blut von Chatbots ab?
Wenn Letzteren die Quellen und Argumente ausgehen, werden sie bekanntlich zu Weltmeistern im Flunkern. Für jede Form von Journalismus aber, die diese Bezeichnung verdient, hat Wahrhaftigkeit als oberstes Prinzip zu gelten.
Umso mehr erstaunt es, dass bei Qualitätsdebatten, sei es im kleinen Kreis von Ressorts und Redaktionen oder im grösseren von Branchentagungen, nur selten über dieses Thema gesprochen wird. Mit leichtem Hang zum Pathos könnte man sogar sagen, der altmodische Begriff der Wahrhaftigkeit drohe mehr und mehr unter die Räder der Storytelling-Maschinen zu kommen.
Wer in der wachsenden Informationsflut nicht untergehen wolle, müsse die Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern narrativ formen, heisst es branchenübergreifend, von der Gastronomie bis zu den Medien. Bloss lauern beim Erzählen Versuchungen in allen Abstufungen, vom Verkürzen über das Übertreiben bis hin zum Erfinden: Ein Dilemma wird verschärft, eine Rivalität zugespitzt oder ein Kampf von David gegen Goliath heraufbeschworen, weil das Publikum Gegensätze liebt. Sie sorgen für Klicks.
Gewiss, das journalistische Handwerk ist ohne Spuren von Unwahrheit kaum denkbar. Nur schon, weil sich das Individuum dem Ideal der Objektivität nur annähern kann. Und Vereinfachen und Verdichten gehören zum redaktionellen Alltag. Doch vom Ver- zum Erdichten ist es nur ein einziger Buchstabe. Und für Dichtung darf im seriösen Journalismus kein Platz sein.
Darin schien man sich doch einig zu sein, als vor acht Jahren die Blase um den Meisterfälscher unter den Reportern platzte: Claas Relotius hatte mit frei erfundenen Protagonisten und Plots die Preise am Laufmeter abgeräumt, ehe sein Betrug aufflog. Medien gingen in sich und gelobten, auf verschärfte Kontrollen und Nulltoleranz zu setzen. Doch was ist von jenem Schock geblieben?
Gewiss, Relotius war mit seiner kriminellen Energie und seinem systematischen Betrug ein Einzelfall. Doch dass das Gebot der Wahrheitstreue wider besseres Wissen unterwandert wird, geschieht nicht nur bei spektakulären Fälschungen, sondern beginnt schon im Kleinen. Etwa, wenn man Aussagen mehrerer Personen einer einzigen in den Mund legt, szenische Einstiege undeklariert aus Drittquellen zieht oder erfindet, die Beschreibung einer Idylle mit fiktivem Amselgesang aufpeppt oder Interviews nachträglich fast nach Belieben anreichert und aufmöbelt.
Das alles geht nicht. Und wer behauptet, mit solchen Tricks einer höheren Wahrheit zu dienen, sollte überdenken, ob er nicht im falschen Beruf ist und besser Romane schriebe.
Fest steht: Für eine knackigere Story die Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen, das höchste Gut des Qualitätsjournalismus, ist dreist, dumm und letztlich selbstzerstörerisch. Also ist auf Redaktionen wie auch in Journalismusschulen die Frage nach der Wahrheitstreue eines Textes immer über jene zu stellen, wie süffig er erzählt sei.
Das gilt zumindest für 364 Tage im Jahr. Ausser vielleicht für den 1. April, der vor der Tür steht.
Urs Bühler ist Vorstandsmitglied des Vereins Qualität im Journalismus (QuaJou) und Journalist bei der NZZ am Sonntag. Dieser Beitrag ist zuerst im monatlichen QuaJou-Newsletter erschienen.
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Storytelling braucht klare Grenzen