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Top, die Wette gilt

Stefan Millius

Derzeit ist die tägliche gedruckte Zeitung auf dem Tisch ein Schatten früherer Zeiten. Und das ist auch begreiflich. Zum einen inseriert kaum mehr jemand, denn wozu Leute nach Produkten gieren lassen, die man nicht mal anbieten kann?

Und zum anderen fallen ganze Themenbereiche wie Sport und Kultur weitgehend aus. Eine Weile lang kann man die Fussballberichterstattung durch Hintergrundstorys ersetzen («wie hält sich XY ohne tägliches Training in Form?»).

Aber irgendwann ist auch das letzte Nebengeleise abgefahren. Also: Völliges Verständnis dafür, dass die Zeitung an Schwindsucht leidet. Wer sich jetzt darüber beklagt, verkennt die Situation.

Die spannende Frage ist vielmehr, was danach passiert, wenn die Krise – zumindest initial – ausgestanden ist. Wird uns danach wieder ein satter Packen Papier präsentiert wie in den besten Zeiten? Ich wage die Prognose: Nein.

Denn während man in den ersten Tagen noch überrascht war über das bisschen Zeitung, das im Briefkasten lag, haben wir uns nach einigen Wochen schon fast daran gewöhnt. Für die Verlage heisst das: Es bietet sich die einmalige Chance, die nach unten nivellierte Erwartungshaltung zu nützen und auf lange Sicht Kosten zu sparen dank tieferen Umfängen. Ein paar Seiten werden sicherlich wieder dazu kommen. Aber es wird wohl eine Vor-Corona- und eine Nach-Corona-Ära in Sachen Zeitungsumfang geben.

Was die Vermutung nahe liegen lässt, ist das Wehklagen der Verlage, das schon lange vor dem Virus eingesetzt hat. Der Einbruch der Werbung, die hohen Produktions- und Verteilkosten, die billige Konkurrenz im Web: Gedruckte Zeitungen sind nicht mehr rentabel.

Unverhohlen wurde uns Lesern angekündigt, dass die Zustellung von Montag bis Freitag nicht in Stein gemeisselt ist, dass in den nächsten drei bis fünf Jahren irgendwas passieren muss.

Und nun ist etwas passiert: Die Pandemie. Sie ist eine einmalige Gelegenheit, fast unbemerkt Leistung auf lange Sicht herunterzufahren. Verübeln kann man das niemandem. Aber es liegt doch eine leichte Ironie darin, dass der völlige Zusammenbruch des Anzeigenmarkts nun dazu führen könnte, das zu begründen, was ja eigentlich vorher schon nötig gewesen wäre – was man aber nicht mit gutem Gewissen tun konnte.



Stefan Millius ist geschäftsführender Partner der Kommunikationsagentur Insomnia GmbH und der Ostschweizer Medien GmbH in St. Gallen.

Der Autor vertritt seine eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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