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Von der Heilsversprechung zur Ernüchterung

In der Werbung galt 15 Jahre lang ein Dogma: Haltung verkauft. Laut Jim Stengel angeblich mit 400 Prozent mehr Profit. Eine gleichsam biblische Geldvermehrung durch ethische Überlegenheit.

Seitdem wetteiferten Marken mit weltrettenden Botschaften, virtuellen Regenwäldern und Tränendrüsen-Weihnachtsspots. Die Werbung konnte sich vom Stigma befreien, Menschen Überflüssiges anzudrehen. Stattdessen retteten wir ganz nebenbei die Welt: Mit jedem Karten-Swipe eine gute Tat. Musterbeispiel: Patagonia. Mit «Don't buy this jacket» predigte die Marke Konsumverzicht … und kurbelte genau dadurch den Verkauf an. Nach genau diesem Kommunikationsmuster. Mehrfach. Diese als säulenheilig verehrte Marke perfektionierte den Purpose-Hype und wurde dafür in der Branche gefeiert und in jeder Agentur stolz getragen.

Doch was ist mit dem Purpose-Hype heute? Er klingt ab. Grosse Heilsverkünder wie Unilever, P&G und Danone haben ihre Weltrettungsfantasien stillschweigend eingestellt. Und wenn ein deutsches Werbemagazin vor einigen Wochen fragte: «Verkaufen Haltungsmarken mehr?», dann entlarvt diese Formulierung die ganze Farce: Es ging nie um echte Haltung, sondern stets um ein Mittel zum Geldverdienen. Wie bösartig!

Der verstorbene Roger Willemsen traf den Nagel auf den Kopf: «Im Augenblick, als die Welt ihren Sinn verlor, entdeckte die Werbung die Heilsbotschaft.» Kein Zufall, dass der Purpose-Trend ausgerechnet nach der Finanzkrise 2008 in der Bankenbranche begann. Die Werbeflut suggeriert: Alle Probleme sind bereits gelöst. Die Realität? Mehr Autos als je zuvor, wachsende Müllberge (aber keine Plastikstrohhalme mehr!) und steigender Zuspruch für extreme Parteien trotz (oder gerade aufgrund) bunter Diversity-Kampagnen.

Viele Unternehmen, die mit Toleranz und Nachhaltigkeit warben, vermieden oftmals Steuern und behandelten Mitarbeiter oder Zulieferer überhaupt nicht vorbildlich. Millionen flossen in Imagespots, während auf Kununu Horrorgeschichten standen. Was war «früher» anständig? Faire Löhne zahlen, Steuern entrichten … ganz ohne Werbegetöse und Auszeichnung in Cannes. Dass die Purpose-Pioniere ihre Haltungsfixierung inzwischen aufgeben, beweist nur (frei nach Mark Ritson): The purpose of purpose was always profit!

Noch alarmierender: Die Branche feiert, dass Marken mehr Vertrauen geniessen als Parteien. Das ist keine Erfolgsgeschichte, sondern demokratiegefährdend! Wenn profitorientierte Unternehmen die Meinungsbildung bestimmen, kontrollieren CEOs und Werbeprofis die öffentliche Debatte, und zwar mit ihrer Weltanschauung für jene «rückständigen» Menschen, die noch Frikadellen essen und nach Mallorca fliegen. Und was, wenn Unternehmen ihre Kommunikationsmacht für konservative oder rechte Positionen nutzen? Die Wahlergebnisse zeigen: Auch dafür gibt es einen Markt. Würden wir dann immer noch applaudieren?

Mein Plädoyer: Echte Haltung zeigt sich in Taten, nicht in Werbebotschaften. In fairer Behandlung von Mitarbeitern, ehrlichen Steuerzahlungen und konkreter Nachhaltigkeit, die uns im Zweifelsfall sogar etwas kostet. Denn letztlich kaufen Menschen Leistungen, nicht ethisch fein choreografierte Posen. Und der abebbende Purpose-Hype beweist: Die Konsumenten durchschauen dieses bigotte Schauspiel. Womöglich war das grösste Opfer dieser Kampagnen nicht unser Geldbeutel, sondern unser Vertrauen.



Oliver Errichiello ist Professor für Markensoziologie, Geschäftsführer des Büros für Markenentwicklung und lehrt an der Hochschule Luzern. Er gehörte zur Gründungsmannschaft des legendären Instituts für Markentechnik in Genf.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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KOMMENTARE

Rolando Baron
08.05.2025 12:14 Uhr
Stimme dir, lieber Oliver, zu 99.9% zu. Und das restliche 0.1%? Hm... die faire Behandlung seiner Mitarbeitenden ist doch auch eine Haltung, oder? Und Ehrlichkeit als Kommunikationsmaxime... also wenn das kein Purpose ist, dann pushe ich weiter meine Werbelügen ;-)