02.08.2019

Digitale Transformation

«In der Politik herrscht breite Mutlosigkeit»

Seit rund 100 Tagen ist Judith Bellaiche Geschäftsführerin von Swico, dem Verband der Schweizer ICT- und Internetbranche. Ein Gespräch über Start-ups als Seismograf, ihre Kandidatur bei den Nationalratswahlen für die GLP und Tabus in der Frauenförderung.
Digitale Transformation: «In der Politik herrscht breite Mutlosigkeit»
«Getrennter Unterricht von Mädchen und Knaben konnte sinnvoll sein», sagt Judith Bellaiche. (Bild: zVg.)
von Edith Hollenstein

Frau Bellaiche, in diesem Gespräch will ich nicht über Recycling reden. Können Sie sich an diese Vorgabe halten?
Das geht schon, wenn es denn sein muss. Ich rede nämlich gerne über Recycling, denn es ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit als Swico-Geschäftsführerin.

Gibt es Berührungspunkte zwischen Ihrem Verband und der Schweizer Kreativwirtschaft?
Ja, diese gibt es – zum Beispiel im Bereich Recycling. Es tut mir leid, dass ich dieses Thema nun doch schon wieder erwähnen muss. Denn es brauchte ein gewisses Mass an Kreativität von den Elektronik-Herstellern, die sich vor 25 Jahren darauf einigten, den ganzen Müll auf ökologische Art und Weise entsorgen zu wollen. Hierzu wurde eine lange Lieferkette aufgebaut: von den Recyclern über die Gebühr bis zu den Händlern. Was damals den Anfang nahm, ist heute immer mehr eine Frage der erweiterten Herstellerverantwortung. Wer ein Gerät baut, muss dafür sorgen, dass es nach Gebrauch möglichst hochwertig wieder zerlegt werden kann. Das Design eines Geräts ist also zunehmend auf Langlebigkeit oder die Rezyklierbarkeit ausgelegt.

Können Sie ein Beispiel machen?
Der Daisy-Roboter von Apple etwa: Er konnte anfangs nur ein einziges iPhone-Modell zerlegen. Mittlerweile schafft er mehrere Modelle (Anm. d. Red.: Daisy kann bis zu 200 iPhone-Geräte pro Stunde demontieren). Das zeigt, wie wichtig es ist, von Beginn weg ans Design zu denken. Stichwort: Design Thinking, das ja momentan sehr angesagt ist.

Sie haben angekündigt, dem Verband zu noch mehr Ausstrahlung und Gewicht verhelfen zu wollen. Was haben Sie vor?
Swico vereint über 600 Firmen, die teilweise unterschiedlich gross sind – also je nach dem 100, 1000 oder, international gerechnet, 10'000 Mitarbeiter haben. Unser Ziel ist, all diesen Mitarbeitenden den Nutzen des Verbandes aufzuzeigen.

Wie machen Sie das?
Wir wollen vermehrt Community-Building betreiben und so den Wissensaustausch innerhalb der ICT-Branche verbessern. Das ist eine anspruchsvolle Angelegenheit, die wir auch iterativ vorantreiben wollen. Wir starten mit Vernetzungsanlässen, unseren «IG-Meetings», zu Themen wie Cloud, Printing und Imaging, Innovation. Zudem bieten wir Circles an wie HR, Legal oder Communications, die unsere Mitglieder nutzen können.

«Start-ups sind so eine Art Radar»

Engagieren sich die Grossen wie Microsoft, Google oder HP tatsächlich im Verband? Oder sind sie einfach dabei, um den Puls der Branche zu fühlen?
Wir machen politische Interessensvertretung für die ICT-Branche, etwa zu Datenschutz, Netzsperren, 5G. Ja, die Grossen sind sehr engagiert, wobei deren Interesse sehr unterschiedlich sind. Deshalb will ich Start-ups näher an uns binden, denn diese sind so eine Art Radar. Wenn Start-ups an regulatorische Grenzen kommen, betrifft dies früher oder später auch andere unserer Mitglieder.

«Unsere Rechtsgrundlagen und das gesamte politische System stossen im digitalen Zeitalter auf unüberwindbare Grenzen. Wenn wir den Anschluss nicht verpassen wollen, müssen wir Gas geben», sagten Sie in einem Interview. Welches sind Beispiele für diese «unüberwindbaren Grenzen»?
Es ist ein grosses Problem, dass in der Politik nichts geht in Sachen Digitalisierung. Viele Politiker benutzen zwar das Wort für ihr persönliches Image. Doch was passiert wirklich? Wo gab es Quantensprünge? Themen wie Sharing Economy oder die Frage der Sozialversicherungen bleiben viel zu lang ungelöst liegen.

Das ist eine Frage des Systems, das auf Konsens auslegt ist und langwierig ist.
Nein. Das hat vor allem mit dem politischen Willen zu tun. Andere Länder, die uns wirtschaftlich lange hinterherhinkten, ziehen an uns vorbei – Stichworte sind 5G, Besteuerung von Start-ups oder elektronisches Patientendossier. In der Politik herrscht eine breit angelegte Mutlosigkeit.

Vorsicht könnte ja angebracht sein, aus Angst vor einem Überwachungsstaat à la China?
Einen solchen Überwachungsstaat will ich auf keinen Fall. Doch genau deshalb muss man sich mit diesem Thema beschäftigen, denn sonst ist es genau die Überwachung, die sich allmählich einschleicht. Mit geht es um Innovation, Fortschritt, und um die wirtschaftliche Spitzenposition der Schweiz.

«Ich selber bin nicht besonders talentiert mit Hardware und auf Hilfe angewiesen»

Woher kommt eigentlich Ihre Affinität für Tech-Themen?  Sie sind ja ursprünglich Juristin.
Ich staune manchmal selber, dass ich in diesen Digitalthemen gelandet bin. Denn selber bin ich nicht besonders talentiert mit Hardware und auf Hilfe angewiesen. Als im Kanton Zürich die Firmensteuer-Revision ein wichtiges politisches Thema war, wurde ich von betroffenen Start-ups um Hilfe gebeten, denn sie fühlten sich vom Kantonsrat alleine gelassen. Weil ich das als berechtigtes, wichtiges Anliegen erachtete, rutschte ich sozusagen in diese Start-up-Welt – und finde sie bis heute total elektrisierend.

Weiter möchten Sie den Frauenanteil in ICT-Berufen in der Schweiz erhöhen. Was für Massnahmen sind hierzu besonders effektiv?
Es gibt noch zu wenige Frauen mit dem nötigen Know-how. Hinzu kommt die Vereinbarkeitsproblematik, von der ich zwar glaube, dass sie nun mehr oder weniger gelöst ist. Ich habe selbst zwei Kinder und deswegen nie aufgehört zu arbeiten. Diese Art Karriere ist aufgrund der aktuell angebotenen Tagesstrukturen bewältigbar, wenn auch nicht optimal. Problematisch hingegen ist, dass sich Frauen von ICT-Berufen zu wenig angezogen fühlen. Umgekehrt fehlt in der ICT-Branche das Verständnis, dass Frauen nicht besondere Lust haben, sich mit Technik zu befassen. Berufsbilder müssten sinnstiftender vermittelt werden. Beispielsweise so, dass man künftig gewisse Krankheiten, etwa auch Krebs, dank digitalen Fortschritten heilen kann.

Und wie engagieren Sie sich in der Förderung von ICT-Frauen? Über eine Kampagne?
Ich bin ja erst 100 Tage im Amt und konnte noch keine konkreten Massnahmen einleiten. Aber als Frau habe ich einen guten Zugang zu Frauennetzwerken, was wertvoll ist. Wenn man vertieft die Ursachen verfolgt und dort ansetzen will, muss man vielleicht auch gewisse Tabus brechen. 

«Neuere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass getrennter Unterricht von Mädchen und Knaben sinnvoller wäre»

Was meinen Sie?
Man sollte ohne Scheuklappen diskutieren, etwa auch die Frage, wie sinnvoll gemischter Unterricht in der Primarschule sind. Neuere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass getrennter Unterricht von Mädchen und Knaben sinnvoller wäre, damit Mädchen diesbezüglich mehr Fortschritte machen können, wenn sie unter sich sind. Natürlich ist das ein Tabu, jetzt wo wir diese Durchmischung und Gleichberechtigung endlich erreicht haben. Dennoch sollte man solche Tabus ergebnisoffen diskutieren.

Sie selber haben zwei Jungs.
Ja genau. Der eine ist stark technikbegabt, der anderen noch zu jung, als dass es sich deutlich zeigt.

Nochmals zurück zur Frauenförderung: Müssten wir tatsächlich zurück zu geschlechtergetrennten Klassen?
Ja, es könnte eine zielführende Massnahme sein. Zudem denke ich, dass Frauen ganz grundsätzlich mutiger sein sollen. Sie sollen mehr Risiken eingehen, denn was kann schon Schlimmes passieren? Dass ein Start-up scheitert oder jemand einen Rüffel kassiert. Dass jemand versagt, ist nicht tragisch.

Falls Sie im Herbst gewählt werden: Wie wollen Sie das Nationalratsmandat mit der Verbandsgeschäftsführung und dem Privatleben unter einen Hut bringen?
Für den Verband hat es den Vorteil, dass die Interessensvertretung konsequenter und direkter passiert. Dass ich mich zur Wahl stelle, habe ich im Auswahlprozess für die Swico-Geschäftsführung transparent gemacht.

Wie machen Sie Wahlkampf?
Im meiner Kampagne setze ich natürlich stark auf digital. Auf Social Media bin ich seit Jahren sehr aktiv, das ist heute Grundvoraussetzung. So will ich die Leute mobilisieren, zudem gibt es eine Unterstützungskampagne einerseits von der Wirtschaft, andererseits von Frauen, die mich in Ihrem Social-Media-Netzwerk zur Wahl empfehlen. Darüber hinaus plane ich eine Überraschung für den 16. August, die sehr stark Start-up-getrieben sein wird und einen weiteren Tabu-Bruch bringt (lacht).

 


Judith Bellaiche ist Geschäftsführerin von Swico, dem Verband der Schweizer ICT- und Internetbranche. Sie hält ein Lizentiat der juristischen Fakultät der Universität Basel und hat 2017 ein Executive MBA in General Management der Universität St. Gallen erworben. Die 48-Jährige politisierte während zwei Amtsdauern für die Grünliberale Partei als Gemeinderätin in der Exekutive ihrer Wohngemeinde Kilchberg und vertritt die GLP seit 2011 im Zürcher Kantonsrat.



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