11.11.2020

Serie zum Coronavirus

«Ich verspürte ein zunehmendes Unwohlsein»

Folge 137: Momentan ist in den Kinos der Film «Zürcher Tagebuch» von Erfolgsregisseur Stefan Haupt zu sehen. Mit «Der Kreis» war er oscarnominiert – und mit «Zwingli» gelang ihm einer der erfolgreichsten Filme des letzten Jahres. Wie erlebt er die Jetztzeit?
Serie zum Coronavirus: «Ich verspürte ein zunehmendes Unwohlsein»
«Auf Dauer wird das für uns alle in der Filmbranche zur unglaublich grossen, nur schwer zu meisternden Herausforderung», so Regisseur Stefan Haupt. (Bild: ZFF/Gabriel Hill)
von Matthias Ackeret

Herr Haupt, Ihr Film «Zürcher Tagebuch» läuft momentan in den Zürcher Kinos, in welchem Sie Ihre persönlichen Eindrücke der letzten Jahre zeigen. Was hat Sie bewogen, einen solchen Film zu machen?
Über die letzten Jahre nahm ich bei mir selbst, aber auch in meinem Umfeld ein zunehmendes Unwohlsein wahr. Einer der Ausgangspunkte dazu war sicher die Finanzkrise 2008. Ich war schockiert darüber, wie wenig ich von der Komplexität unserer Welt verstehe. Und später auch darüber, wie schwer fassbar sich die gesellschaftlichen und politischen Realitäten verschieben, wie sehr alles einer blutleeren Gewinnmaximierung untergeordnet wird. Reagieren wir mit Ohnmacht und Lethargie darauf, oder mit Wut und Engagement? Solchen Fragen wollte ich nachgehen.


Ein wichtiger Schritt ist dabei die Digitalisierung. Ist dies nun ein Vor- oder ein Nachteil in unserem Leben?

Ganz entschieden beides! Die Erleichterungen in Sachen Vernetzung, Austausch, Zugänglichkeit und erleichterte Informationsflüsse sind ja offensichtlich und häufig genial. Aber gleichzeitig droht uns diese unglaubliche Bandbreite an konstanten «Informations-Tsunamis» zu überfordern, zu überschwemmen und auch danach süchtig zu machen, sodass wir kaum noch zur Ruhe kommen, abschalten und ganz bei uns selbst sein können. Hilflos!

Ihr Film endet praktisch beim Ausbruch des Lockdowns. Bestand nicht die Versuchung, das «Tagebuch» noch weiterzuführen?
Doch! Aber gleichzeitig war da der Film eigentlich bereits fertiggestellt. Nun empfinde ich ihn wie ein Scharnier zu jener Zeit davor, die einerseits immer noch ganz nah bei uns ist, mit all den ungelösten Fragen – die Klimaentwicklung zum Beispiel, um nur ein Thema zu nennen –, andererseits bereits seltsam weit entrückt scheint. Das gibt dem Film eine ganz eigene Brisanz.

«Ich empfinde eine seltsame Gleichzeitigkeit verschiedenster Zustände und Stimmungen»

Wie erleben Sie Zürich momentan?
Ich empfinde eine seltsame Gleichzeitigkeit verschiedenster Zustände und Stimmungen: Nach wie vor kann man beispielsweise im Restaurant sitzen, wird freundlichst bedient und geniesst einen wunderschönen Abend. Pendlerströme in den S-Bahnen fühlen sich immer noch ähnlich an wie immer. Gleichzeitig erlebt man, dass eine nahe Bekannte mit einer Corona-Erkrankung kämpft, weiss um das Pflegepersonal, das Ausserordentliches und Grossartiges leistet und von Gesellschaft und Politik häufig zu wenig Anerkennung dafür bekommt. Klatschen allein genügt nicht! Letzthin an einem frühen Morgen fuhr ich mit dem Velo durch neblige Quartierstrassen ins Atelier. Es war alles wie ausgestorben, erinnerte mich schlagartig an den Lockdown im März. Es fühlte sich seltsam an. Ein wenig wie die Ruhe vor dem Sturm, der sich auch in Form einer erneuten ungeahnten Stille zeigen könnte.

Wie wirkt sich die ganze Coronazeit auf Ihr Schaffen als Filmemacher aus?
Glücklicherweise konnte ich während des Lockdowns den Film fertigstellen. Das Zurich Film Festival (ZFF) ermöglichte eine wunderschöne Premiere im September. Der Kinostart eben jetzt ist aber natürlich alles andere als einfach: Obwohl die Kinos mit höchstens 50 Zuschauenden ja mitunter zu den sichersten Orten gehören, spürt man natürlich die Zurückhaltung vieler Leute enorm, jetzt in den Ausgang zu gehen. Andererseits arbeite ich bereits an zwei neuen, grossen Spielfilmprojekten, an der Entwicklung respektive der Weiterbearbeitung der Drehbücher, und das kann ich – momentan jedenfalls – auch sehr gut von zu Hause oder vom Atelier aus. Doch auf Dauer wird das für uns alle in der Filmbranche, jetzt schon ganz speziell in der Produktion und noch stärker in der Kinoauswertung, zur unglaublich grossen, nur schwer zu meisternden Herausforderung. Es ist unverzichtbar, dass uns die Politik genauso wie anderen, mit stärkeren Lobbys ausgestatteten Branchen kräftig unter die Arme greift.

«Zu Zwinglis Zeit in Zürich raffte die Pest ein Drittel der Stadtbevölkerung dahin»

Sie haben auch den Erfolgsfilm «Zwingli» gemacht. Gibt es Parallelen zur Zeit der Reformation, als die Pest wütete?
Zu Zwinglis Zeit in Zürich raffte die Pest ein Drittel der Stadtbevölkerung dahin. Das waren natürlich völlig andere Dimensionen, die nicht mit der unsrigen Situation zu vergleichen sind. Ich empfinde aber, dass sich bei uns Heutigen über die letzten Jahrzehnte ein Lebensgefühl eingenistet hat, als wüssten wir alles, hätten alles, unsere Gesundheit, unser Leben, bestens im Griff. Und nun zeigt uns diese Pandemie, dass dem nicht so ist. Und das verängstigt und beunruhigt viele tiefer und nachhaltiger, als wir es wahrhaben wollen.

Haben Sie schon nächste Projekte?
Ja, ich bin am Entwickeln eines Spielfilms über die letzten anderthalb Jahre im Leben von Johann Sebastian Bach. Keine Musik hat mich zeitlebens tiefer berührt und begleitet als die seine. Würde Corona unser Leben nicht einschränken, wäre ich bedeutend häufiger in Leipzig und Berlin am Recherchieren und Vorbereiten – doch da momentan die Drehbucharbeit im Vordergrund steht, lässt sich dies auch ganz gut von hier aus vorantreiben. Und weiter steht eine spannende Literaturadaption bevor.

Was war für Sie persönlich das prägendste Erlebnis der letzten Wochen?
Ein junger, mir unbekannter Mann, der nach einer Vorpremiere des «Zürcher Tagebuchs» zu mir kam, von sich zu erzählen begann, dann in Tränen ausbrach. Der Film habe ihn dermassen berührt, weil er Gefühle in Worte und Bilder gepackt habe, die er ganz genauso kenne. Und weil er ihm Mut gemacht habe, jetzt umso mehr seinen Weg zu gehen: Er wolle nämlich Naturwissenschaften studieren und sich engagieren … Mit so einer Reaktion hatte ich in keiner Weise gerechnet und war selbst sehr berührt und ermutigt zu sehen, was für junge Menschen da in und trotz dieser schwierigen Zeiten heranwachsen.



Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com regelmässig eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier.



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