14.12.2020

Serie zum Coronavirus

«Theoretisch kann es Überraschungen geben»

Folge 146: Der gebürtige Schaffhauser Vinz Koller ist einer der 538 Wahlmänner, die den neuen US-Präsidenten wählen. Zum dritten Mal kommt der Demokrat nun zum Einsatz.
Serie zum Coronavirus: «Theoretisch kann es Überraschungen geben»
Kamala Harris und Vinz Koller: Der Exil-Schaffhauser engagiert sich für die demokratische Partei in den USA. (Bild: zVg.)
von Matthias Ackeret

Herr Koller, Sie sind einer der 538 Wahlmänner, die am 14. Dezember über den neuen Präsidenten abstimmen. Was genau müssen Sie machen?
Wir versammeln uns alle im Kapitolgebäude in Sacramento, wo normalerweise das Parlament von Kalifornien tagt. Wir werden vereidigt, es gibt ein paar administrative Amtshandlungen und wir stimmen dann ab – zuerst verbal, dann auf Papier – und zwar mit je einem Stimmzettel für den Präsidenten und die Vizepräsidentin. Die Wahlzettel sind bereits vorgedruckt, also besteht die eigentliche schriftliche Abstimmung darin, dass wir den vorgedruckten Wahlzettel unterschreiben.

Wie kommt man als Schweizer überhaupt zu dieser Ehre?
Nun, ich bin seit 2002 auch Amerikaner und bin sehr rasch politisch aktiv geworden. In Kalifornien werden die demokratischen Wahlmänner und -frauen vom jeweiligen Repräsentanten oder Senatoren ernannt. Meist sind es Leute, die sich im Wahlkampf aktiv beteiligt haben. Unser Repräsentant hat mich angefragt – zum ersten Mal 2008 – zur Wahl von Barack Obama. Damals war ich Parteipräsident der Demokraten im Amtsbezirk von Monterey. Dann auch wieder 2016, als Hillary Clinton zwar das Volksmehr gewann, aber nicht das Elektorenmehr.  

Kann es rein theoretisch noch zu Überraschungen kommen?
Rein theoretisch schon. In 17 Staaten sind die Elektoren nicht an das Volksmehr gebunden. Dennoch würde das ja heissen, dass sich ein loyaler Parteianhänger gegen die Mehrheit in seiner eigenen Partei stellen würde. Vor vier Jahren war das ein grösseres Thema. Ob die Trump-Leute weiterhin versuchen werden, ein ganzes Kontingent von Elektoren eines Bundesstaates zu ersetzen, wird sich zeigen. Chancen sehe ich aber bei einem solchen Manöver keine. Dennoch erwarte ich, dass es bis zum 6. Januar, der endgültigen Auszählung der Stimmen im Parlament in Washington, immer wieder zu Scharmützeln kommen wird. Trump hat die Republikanische Partei umprogrammiert, ohne auf ihre Zukunft oder die Zukunft des Landes zu achten. 

«Man vergisst gerne, dass die USA die Wiege der modernen Demokratie sind»

Welches war Ihre Funktion während des letzten Wahlkampfes?
In diesem Wahlkampf war ich für den schriftlichen Wahlkampf unserer Regionalpartei zuständig. Das betraf die sozialen Medien, die elektronische Post und sowie alle Drucksachen. Wir erreichten damit die grosse Mehrheit der demokratischen Wähler in unserem Bezirk. 

Vor vier Jahren waren Sie im Team von Hillary Clinton aktiv. Was waren die grössten Unterschiede zur diesjährigen Wahl?
Der grösste Unterschied lag darin, dass die Demokraten den Wahlkampf wegen der Pandemie ohne direkten Kontakt mit den Wählern durchführen mussten. Darin unterschied sich das Vorgehen der beiden Parteien sehr stark. Uns Demokraten hat diese Haltung wahrscheinlich an der Urne geschadet, schlussendlich war es aber sicherlich der richtige Entscheid. Es kann nicht sein, dass wir unsere Werte während des Wahlkampfes einfach beiseiteschieben und das Wahlvolk wie auch unsere Freiwiligen während Corona unnötigen Gefahren aussetzen.

Wie gut kennen Sie den neuen Präsidenten?
Persönlich kenne ich Joe Biden nicht. Aber weil er schon so lange zur demokratischen Familie gehört, kommt es mir vor als sei er ein Onkel, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Er hat genau die Qualitäten, die unser Land – nach der Achterbahnfahrt der Trump-Jahre – braucht. Es muss in der Regierungsarbeit einfach wieder ein bisschen Ruhe einkehren, damit wir uns um die dringenden Geschäfte dieser Nation kümmern können. Diese wurden in den letzten vier Jahren vollkommen vernachlässigt oder aktiv untergraben. Unser Land braucht eine Rückbesinnung auf die Grundwerte, die es zu einem wichtigen Vorreiter der Demokratie gemacht haben. Man vergisst gerne, dass die USA die Wiege der modernen Demokratie sind. Die neue Vizepräsidentin Kamala Harris kenne ich hingegen recht gut. Ich habe sie bereits einige Male zu politischen Veranstaltungen bei uns eingeladen. Bereits vor zwölf Jahren dachte ich mir, dass ihre Laufbahn so wie diejenige von Obama verlaufen könnte. Und nun ist es tatsächlich soweit.

«Die Situation ist ähnlich wie in der Schweiz»

Wie erleben Sie momentan die Stimmung in den USA?
Es ist eine eigenartige Zeit, die durch grosse Unsicherheit geprägt ist, sowohl aus politischer als auch aus wirtschaftlicher Sicht. Der grösste Unterschied zum üblichen Schlagabtausch unter Parteikontrahenten ist zweifelsohne, dass eine Partei die Spielregeln nicht mehr akzeptieren will, und somit die Legitimität der anderen Seite infrage stellt, ohne irgendwelche handfesten Gründe zu präsentieren. So etwas hat es in der modernen Geschichte noch nie gegeben. Wie wir daraus wieder herausfinden und zu einer partnerschaftlicheren politischen Auseinandersetzung kommen werden, wird sich zeigen. Dass der Zeitpunkt mit der existenziellen Gefahr durch eine globale Pandemie zusammenfiel, macht die Sache noch schwieriger.

Sie haben Corona angesprochen. Wie fest prägt momentan das Virus Ihr tägliches Leben?
Die Situation ist ähnlich wie in der Schweiz. Auch bei uns werden die Einschränkungen wieder hinaufgefahren. Kontakte mit Personen, die nicht zum Haushalt gehören – ausser beim Einkauf – finden eigentlich nur virtuell statt. Es sei denn, der Kontakt sei aufgrund des Berufes branchenspezifisch.

Wenn Sie mit der Schweiz vergleichen, was sind die wesentlichsten Unterschiede?
Der grösste Unterschied ist wohl, dass hier in Kalifornien die Schule seit März nur noch virtuell stattfindet. Also konnte man über längere Zeit ein Restaurant oder eine Bar – allerdings nur im Freien – besuchen, aber nicht in die Schule. Dazu kommt, dass die Regeln bei uns, selbst wenn sie verschärft werden, selten zu Strafverfolgungen führen. Die Polizei ist in solchen Fällen eher passiv. Diese Haltung wirkt sich aber möglicherweise positiv auf die Akzeptanz der Massnahmen aus. Trotzdem kommt es immer wieder zu regionalen oder parteipolitischen Unterschieden und Handhabungen des Gesetzes.

«Mir wurde klar vor Augen geführt, wie der strukturelle Rassismus auch im 21. Jahrhundert weiter anhält»

Haben Sie noch viele Kontakte mit Ihrer alten Heimat?
Oh ja. Ich verfolge das Geschehen in der Schweiz täglich, höre das Echo der Zeit als Podcast – mindestens einmal pro Woche – oder telefoniere mit meiner Familie und Freunden. Die Pandemie hat uns alle ein wenig nähergebracht. Es ist ganz klar das einschneidendste globale Ereignis der Nachkriegszeit, das uns allen gezeigt hat, in welch eng vernetzer Gesellschaft wir leben – im Guten wie im weniger Guten.

Was war für Sie das prägendste Erlebnis der letzten Wochen?
Ich reiste in der Woche vor der Präsidentschaftswahl durch die amerikanischen Südstaaten – insbesondere Alabama – und konnte dort beobachten, wie die schwarze Landbevölkerung zu den Urnen strömte. In Gegenden also, in denen ihnen das Wahlrecht erst spät – durch die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre – zugestanden wurde. In den letzten Jahren wurden auch einige der hart errungenen Rechte wieder entzogen; oft unter dem Vorwand von vermeintlichem Wahlbetrug. In diesen Momenten wurde mir wieder klar vor Augen geführt, wie der strukturelle Rassismus auch im 21. Jahrhundert weiter anhält und dass unsere Bürgerrechtsarbeit noch lange nicht zu Ende ist. Es zeigt mir auch, wie wichtig der Einsatz bei der Wahl und in jedem Landesteil ist.



Vinz Koller hat an den letzten fünf amerikanischen Präsidentschaftswahlen als Demokrat mitgearbeitet. Im Dezember wird er zum dritten Mal als einer der 538 Elektoren stellvertretend für die Bürger seines Bezirks die Stimme für den nächsten Präsidenten der USA einlegen. Der Exil-Schaffhauser lebt seit über 30 Jahren in Kalifornien und ist seit 2002 US-Bürger.

Seit 2006 ist er in der Parteileitung der Demokratischen Partei im Amtsbezirk Monterey, die er für zehn Jahre geleitet hat. Seit 1998 berät er Arbeits- und Bildungsministerien der Bundesregierung und deren Gliedstaaten und hat sowohl mit republikanischen wie auch demokratischen Regierungen zusammengearbeitet.

Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com regelmässig eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier.



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