14.11.2017

Kurzfilmtage Winterthur

Wenn Zuschauer Teil des Films werden

Kino ohne Leinwand, dafür mit Virtual-Reality-Brille und Kopfhörern? Erstmals waren VR-Filme im Programm der Winterthurer Kurzfilmtage. Das «kollektive Individualerlebnis» vermochte zu begeistern.
Kurzfilmtage Winterthur: Wenn Zuschauer Teil des Films werden
Kino der Zukunft oder Spielereien von Nerds für Nerds? VR-Filme an den Kurzfilmtagen Winterthur. (Bild: zVg.)
von Marius Wenger

Ein spärlich beleuchteter Nebenraum im Theater Winterthur, der eher an Abstellkammer als an Kinosaal erinnert, darin 30 Drehstühle mehr oder weniger zufällig angeordnet. Während die VR-Brillen und Kopfhörer verteilt werden, werden die Besucher darauf hingewiesen, die Drehstühle nicht zu nah beisammen zu platzieren, um Beinkollisionen während der Filmvorführung zu vermeiden. Einige Besucher suchen derweil etwas verloren nach einer sicheren Ablagemöglichkeit für (Alltags-)Brillen, Handys und Portmonees.

VR-Kino ist für die meisten Neuland. Weder Publikum noch Veranstalter haben viel Erfahrung mit dem kollektiven Individualerlebnis. Im  Programmblock «First Contact» vom Samstag wurden Neulinge behutsam in die virtuelle Welt eingeführt. Nichtsdestotrotz konnten die fünf an den Kurzfilmtagen Winterthur gezeigten Kurzilme aus verschiedenen Ländern mitreissen: Bei «Sergeant James» etwa ist der Zuschauer Monster oder Beschützer unter einem Kinderbett, «Longing for Wilderness» nimmt den Betrachter mit auf eine kurze, aber rasante Reise aus einer lauten Stadt in die Ruhe der Natur und im surrealen Film «Ashes to Ashes» beobachtet der Zuschauer aus der Perspektive des verstorbenen Opas in der Urne, wie seine Familie berät, was mit ihm geschehen soll – was zu allerlei Streitigkeiten führt.


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An Festivals international im Trend

Mit der Aufnahme von VR-Filmen ins Programm folgen die Kurzfilmtage Winterthur dem internationalen Trend in der Filmbranche: Auch an den Festivals in Cannes und Venedig liefen dieses Jahr erstmals VR-Programme. Nebst «First Contact» waren in Winterthur zwei weitere VR-Blöcke zu sehen. Wie «First Contact» dauerten auch sie jeweils zwischen 30 und 40 Minuten und liefen ausserhalb des Wettbewerbprogramms; sie konnten also keine Preise gewinnen.

Die jährlich stattfindende Podiumsdiskussion «The Future of Short Film» widmeten die Organisatoren dieses Jahr dem Thema «VR – quo vadis?». Eingeladen waren Kirsten Ruber (GoShort-Festival in Nijmegen), Annette Schindler (Fantoche-Festival, Baden) und Rich Warren (Encounters-Festival, Bristol) – drei Personen also, die für die neue (Film-)Technologie das Publikum finden wollen und müssen, wie Moderatorin Rachel Schmid (Eurimages) sie vorstellte.

Kurzfilmtage Panel


Es bleibt viel zu lernen für alle Beteiligten

Die drei sind sich rasch einig, dass das VR-Kino noch tief in der Experimentierphase steckt – in verschiedener Hinsicht. Während das Publikum in der gewohnten Kinoumgebung voll und ganz in den Film eintauchen kann, gelinge dies bei VR bei weitem nicht allen, sagt Kirsten Ruber. «Einerseits ist man der neuen Technologie gegenüber kritisch, ihre Neuheit behindert also gewissermassen das totale Filmerlebnis – noch. Andererseits liefert sich der einzelne Zuschauer den andern aus und macht sich durch die Abschottung verletzlich.» Aus diesem Grund sei es nicht angebracht, VR-Filme in riesigen Sälen vor riesigem Publikum zu zeigen, ergänzt Rich Warren. «Die intime Atmosphäre ist vertrauensvoller und macht es dem Publikum leichter, das Reale zu vergessen und voll in den Film einzutauchen.» Weiterer Grund für das niedrige Platzzahlangebot seien die Kosten, die wie immer bei neuen Technologien sehr hoch. Obwohl die Nachfrage gross ist – in Winterthur waren alle VR-Vorstellungen ausverkauft – ist VR an Festivals ein Defizitgeschäft.

Immer wieder kommt die Diskussion leicht ins Stocken, weil das Feld des VR-Kinos so weit ist, dass es schwer als Einheit zu fassen und besprechen ist. Auf der einen Seite des Spektrums stehen Filme, bei denen der Zuschauer passiver Voyeur ist, dem herkömmlichen Film ähnlich, mit dem Unterschied der gebotenen 360-Grad-Perspektive. Am anderen Ende des Spektrums stehen Filme, in denen Zuschauer von den Charakteren mit ins Geschehen einbezogen werden und sie gar den Verlauf des Films mitbestimmen lassen. Um die Zuschauer nicht völlig unvorbereitet in die virtuelle Welt zu schicken und ihnen so das Eintauchen zu erleichtern, schlägt Moderatorin Rachel Schmid die Einführung von Genres oder Labels vor, die dem Zuschauer etwas über die Erfahrungen, die ihn erwarten, verraten sollen; etwa, inwiefern die Filme involvierend seien, aber auch, ob sie eher belustigend oder bedrückend wirkten.


Kino wird nicht sterben

Obwohl VR-Filme derzeit boomen und insbesondere in China hunderte VR-Kinos gebaut werden, wie Rich Warren sagt, sind sich die Podiumsteilnehmer einig, dass die neue Technologie das herkömmliche Kino nie verdrängen werden. «Nichts wird wegen VR sterben», meint Annette Schindler, «aber VR wird kommerziell sehr wichtig.» Anders als in anderen Anwendungsbereichen von VR gehe es im Film «weniger darum, Realität zu erzeugen, sondern die filmische Umgebung zu entdecken und Neugier zu wecken.» Auch Rich Warrens Statement, lieber passiver Voyeur als Interagierender zu sein, geht in eine ähnliche Richtung. Er sagt weiter: «Nach Filmende soll das Kinoerlebnis gleich wie bei normalen Filmen sein.»

Und so ist es gewissermassen auch in der besuchten Vorstellung: Kaum waren Brillen und Kopfhörer abgelegt und die Zuschauer wieder auf ihren Drehstühlen «gelandet», begann ein reger Austausch über das gemeinsam einsam Erlebte.

Besonders stark wahrzunehmen ist der augenblicklich steigende Lärmpegel im Raum wohl dann, wenn die zeitliche Synchronisierung der Filme zwischen den verschiedenen Kinobesuchern noch nicht ganz funktioniert und man – wie im Fall des Schreibenden – erst zwei Minuten nach dem Rest des Publikums aus der virtuellen Welt entlassen wird.



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