Herr von der Goltz, Frau Kebeiks, Hand aufs Herz, haben Sie im Auto auch schon mal auf Ihr Handy geschaut?
Colmar von der Goltz: Ja. Zum Glück ohne kritische Folgen … jeglicher Art (klopft auf Holz). Obwohl ich nicht zur Generation Digital Natives gehöre, wird einem die ubiquitäre Erreichbarkeit auf allen Kanälen sehr schnell zum Verhängnis. Anders gesagt, es wird einem sehr einfach gemacht, ständig mit dem Handy zu interagieren, auch beim Autofahren, Spazierengehen, Velofahren etc. Ich sehe, wie diese permanente Erreichbarkeit, der Always-on-Sein-Zwang der Digital Natives im absoluten Konflikt zur Sicherheit im Strassenverkehr steht.
Stéphanie Kebeiks: Telefonieren war für mich schon immer ein No-Go, und da ich eine schlechte SMS-Tipperin bin, fand diesbezüglich unbewusst eine Art präventive Selbstregulation statt. Aber Navigationsdienste nutzen, Musik hören oder auch mal eine Nachricht lesen, ja, das kam früher schon mal vor. Seit ein paar Jahren, verbunden sicher auch mit der Geburt meiner Kinder, ist das Handy im Auto aber tabu. Zu Beginn habe ich die Ablenkung bewusst verbannt und das Handy auch mal in der Tasche im Kofferraum verstaut. Aber mit zunehmendem Bewusstsein, welche Verantwortung man am Steuer hat, nicht nur für sich selber, sondern auch gegenüber den Mitfahrenden und den anderen Verkehrsteilnehmenden, wurde die Nicht-Benutzung zur logischen Selbstverständlichkeit. Zu schnell ist etwas passiert. Und keine Nachricht, kein Lied und kein Like … einfach nichts ist so wichtig, dass es nicht warten kann. Genau dieses Wissen wollen wir mit unserer Kampagne vermitteln und eine Handlungsanweisung geben: Lass es auf der Strasse in der Tasche!
Der Blick aufs Handy ist generell auf der Strasse gefährlich, nicht nur im Auto. Welche Verhaltensweisen schockieren Sie?
Kebeiks: Gerade heute wieder habe ich eine Frau gesehen, die so in ihr Handy vertieft war, dass sie, ohne den Blick zu heben, die Strasse überqueren wollte. Zum Glück war der Autofahrer aufmerksam und hat gut reagiert. Solche Szenen sieht man tagtäglich im Strassenverkehr. Was mich dabei verärgert, ist die scheinbare Selbstverständlichkeit der Handynutzung. Die Gefahr wird einfach ausgeblendet, der Kopf gesenkt und man kapselt sich von der Umwelt ab. Sei dies zu Fuss oder sogar auf dem Velo. Der Begriff «Smartphone-Zombies» passt manchmal erschreckend gut. Dabei sprechen die Unfallstatistiken eine andere Sprache und Ablenkung hat sich in den letzten Jahren zur Unfallursache Nummer Eins entwickelt. Und was oft vergessen geht, ist die Tatsache, dass man nicht nur sich selber, sondern auch andere Verkehrsteilnehmende in Gefahr bringt. Diese Rücksichtslosigkeit ist es, was mich schockiert.
«Eine Person stirbt, das Leben anderer ist deswegen für immer zerstört»
Für einen Schockmoment sorgt auch der neue Kampagnenfilm, der nun in den Kinos zu sehen ist (persoenlich.com berichtete). Er handelt auf einem Friedhof. Wie kam es dazu?
Von der Goltz: Die Botschaft an die Zielgruppe «Ablenkung durchs Handy kann Leben zerstören» mit der Handlungsanweisung «Lass es auf der Strasse in der Tasche» kann nicht genügend betont werden. Die ultimative «Zerstörung» eines Lebens ist nicht nur der Tod allein, sondern auch die Zerstörung der Leben der Familie und Freunde der Betroffenen respektive der Verursacher. Eine Person stirbt, das Leben anderer ist deswegen für immer zerstört. Keine Story, kein Tweet, kein Post in dieser Sekunde am Steuer hat jemals ein Leben gerettet – wir möchten erreichen, dass deswegen auch keines verloren geht.
Farner hat die Idee entwickelt, bildlich umgesetzt wurde der Clip durch externe Partner. Wie zufrieden sind Sie mit dem Resultat?
Kebeiks: In unserer Präventionsarbeit versuchen wir, klassische Schockbilder zu vermeiden. Wir setzen auf emotionale Botschaften, welche die Konsequenzen des eigenen Handelns erfahrbar machen. Wäre der Tod des Freundes nicht extrem einfach zu verhindern gewesen? Hätte die Nachricht nicht warten können und man könnte jetzt gemeinsam das Leben geniessen, anstatt an seiner Beerdigung zu stehen? Diese Sinnlosigkeit und die damit verbundene Trauer vermittelt der Film extrem gut. Die Produktion war sehr professionell, was dem Film auch anzusehen ist. Wir sind begeistert und auch überzeugt, dass die Tonalität bei unserer Zielgruppe sehr gut ankommen wird.
Gibt es den Film nur im Kino zu sehen?
Von der Goltz: Der Film ist für die Digital Natives. Daher ist er auf den Kanälen zu sehen, mit denen wir die Digital Natives am besten erreichen. Im Kino, so denken wir, erreichen wir die Zielgruppe mit einem sehr grossen Fokus für die Botschaft. Natürlich tun wir das auch auf sozialen Medien und beim entsprechenden Targeting sowie mit Unterstützung ihrer Idole, diversen Influencern. Liebe Digital Natives, schaut euch den Film an, einfach nicht beim Überqueren der Strasse.
Die Kampagne richtet sich an 16- bis 24-Jährige. Weshalb konkret diese Zielgruppe?
Kebeiks: Basierend auf der Erfahrung unserer täglichen Arbeit an Schulen und Ausbildungszentren wissen wir sehr gut, wie und auf welchen Kanälen man diese Altersgruppe ansprechen muss. Der Mahnfinger wird abgelehnt, Prävention auf Augenhöhe ist der Schlüssel. Und die «Mobile Natives» erreicht man am besten online. Deshalb ist es sinnvoll, eine eigene Onlinekampagne für diese Zielgruppe durchzuführen.
«Mal ist zu viel Übermut dabei, ein anderes Mal fehlt die Erfahrung»
Lassen wir Zahlen sprechen: Wie stark ist diese Zielgruppe von Unfällen betroffen?
Kebeiks: In 35 Prozent der schweren Unfälle mit 16- bis 24-jährigen PW-Lenkenden ist die Ursache «Unaufmerksamkeit und Ablenkung». Dies ist deutlich mehr als bei den 25- bis 65-Jährigen. Experten sind von diesen Zahlen nicht überrascht, denn die Jugendlichen befinden sich in einer Lebensphase, in welcher viel Neues auf sie zukommt, ihre Lebensumwelt sich extrem schnell verändert. Mal ist zu viel Übermut dabei, ein anderes Mal fehlt die Erfahrung. Daher ist die präventive Arbeit in dieser Altersgruppe so extrem wichtig.
Und wie sehen die Zahlen zum Kampagnenerfolg aus?
Von der Goltz: Mit der Kampagnenmechanik und Botschaft haben wir in der ersten Welle ins Schwarze getroffen. Das Thema ist schweizweit von den Medien aufgegriffen worden, nicht nur weil sie Position als Meinungsmacher zur Unfallprävention beziehen wollten, sondern es ihnen mit der eindrucksvollen Umsetzung der Botschaft auch besonders leichtgefallen ist. Wir konnten einen Earned Reach von circa einer halben Millionen Franken erreichen. Die Kampagnenplattform ermöglicht auch den Idolen der Zielgruppe, bekannten Schweizer Influencern, sich unkompliziert eines Tools zu bedienen, das ihnen gestattet, die Botschaft authentisch und in eigenen Worten zu formulieren. Wir konnten so circa 2,2 Millionen Follower erreichen.
«Wir konnten ein VBZ-Tram komplett durchgestalten»
Um die jungen Menschen zu erreichen, setzen Sie auf zusätzliche Touchpoints. So verkehrt in Zürich seit Montag ein Sondertram. Was ist das Besondere an diesem Tram?
Von der Goltz: Wir haben mit dem Tram eine Massnahme, um unsere Botschaft zu kommunizieren, die sich im Zentrum von Zielgruppe und «Ort des Geschehens» bewegt. Medium und Botschaft könnten nicht besser kombiniert sein. Die Verkehrsbetriebe Zürich sind sich der Notwendigkeit der Präventionskommunikation sehr bewusst und unterstützen die Kampagne sehr. Wir konnten ein VBZ-Tram komplett durchgestalten, welches für ein Jahr in der Stadt fährt. Basierend auf den Erfolgen mit den Influencern verstärken diese erneut die Botschaft, indem sie sozusagen immer im Tram mitfahren.
Mit dem VBZ-Tram erreichen Sie die jungen Menschen nur, wenn diese in Zürich sind. Sind weitere Städte geplant?
Kebeiks: Die Zürcher Verkehrsbetriebe haben das Thema für so wichtig empfunden, dass sie uns ein Tram offeriert haben. Dafür sind wir enorm dankbar. Dies bedeutet aber nicht, dass die Kampagne in anderen Landesteilen nicht zu sehen ist. Die Kampagne ist in der Deutschschweiz, der Romandie und auch im Tessin mit Traffic Boards auf Bussen präsent.
Zurück zum Kampagnenfilm. Dort spielen SMS eine wichtige Rolle. Verraten Sie mir, was in Ihrem letzten SMS steht?
Von der Goltz: «OK» auf die Aussage eines Freundes zu seiner Ankunftszeit: «7, 7:30. Dann ist der Verkehr vielleicht nicht mehr so schlimm.» Darüber nachgedacht kommt es mir in den Sinn, dass gerade Ankunftszeiten doch eine Häufigkeit bei Textnachrichten haben. Speziell diese ist noch vor der Fahrt geschrieben worden. Wenn ich den Zeitpunkt der Autofahrt kenne, sollte auch ich nicht mehr Fragen «Wann bist du da?».
Kebeiks: «Zur Sicherheit: Mirco braucht sein Fahrrad, wir wohnen auf der Allmend und Jakob holt ihn bei der Schule mit dem Fahrrad ab.» Es war eine SMS an die Mutter eines Freundes meines Sohnes und wir haben den Nachmittag organisiert. SMS sind grundsätzlich eine tolle und hilfreiche Kommunikationstechnik. Man muss sie nur im richtigen Moment nutzen.
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21.09.2021 08:39 Uhr
21.09.2021 08:19 Uhr