10.09.2002

"Der Tagi war in den vergangenen Jahrzehnten in einer beneidenswerten Position."

Der Tages-Anzeiger hat den am Dienstag veröffentlichten Reichweitenzahlen der Wemf zufolge eine markante Einbusse hinnehmen müssen. Damit hat der Tagi nach den Verlusten im Vorjahr einen Siebtel seiner LeserInnen verloren. "persoenlich.com" fragte Chefredaktor Philipp Löpfe (Bild) nach den Gründen dieses Verlusts und nach seinen Gegenstrategien und Plänen. Das Interview:
"Der Tagi war in den vergangenen Jahrzehnten in einer beneidenswerten Position."

Der Tages-Anzeiger hat 35'000 LeserInnen (6 Prozent) verloren. Allgemein wird der Erfolg von 20 Minuten dafür verantwortlich gemacht. Sehen Sie das auch so?

Natürlich hat 20 Minuten den Markt verändert. Mindestens so wichtig ist aber der Zürich Express, der gratis in die Haushaltungen geliefert wird. Das ist bei einer älteren Tagi-affinen Leserschaft, etwa in Genossenschaftssiedlungen, nicht unproblematisch. -- Insgesamt sieht man, dass alle überregionalen Tageszeitungen in den vergangenen Jahren einen schweren Stand hatten.

Der Tages-Anzeiger gehört dabei aber zu den stärksten Verlierern. Warum?

Der Tagi war in den vergangenen Jahrzehnten im Millionen-Zürich sicher in einer beneidenswerten Position. Das sah man jeweils auch der Erfolgrechnung der Tamedia an, von welcher der Tagi einen grossen Teil ausmachte. Solche Situationen rufen eben nach Konkurrenz.

Seit dem Jahr 2000 hat der Tagi gar 80'000 LeserInnen weniger. Wie wollen Sie die Trendwende schaffen?

Bei den Wemf-Zahlen entsteht bis zur Veröffentlichung immer eine Verzögerung. Unseren internen Zahlen zufolge scheint die Talsohle inzwischen erreicht, das Geröll auf dem Granit-Block ist weg. Mit anderen Worten: Die untreuen Leser, die in den 90er Jahren mit intensivem Marketing gewonnen wurden, sind wieder abgesprungen, die Stammleserschaft bleibt.

Wird sich der Tagi konzeptmässig künftig stärker an den Pendlerzeitungen orientieren?

Mit Sicherheit nicht! Das macht keinen Sinn, denn die Pendlerzeitungen bedienen ein anderes Lesersegment. Die vergangenen zehn Jahre waren für eine politische Zeitung nicht unbedingt optimal, doch jetzt ändert sich der Zeitgeist: Wir erleben eine neue Politisierung der Gesellschaft. -- Abgesehen davon ist aufgrund der wirtschaflichen Zahlen von 20 Minuten ja noch keineswegs klar, ob der Titel für immer wird bestehen können.

Die NZZ am Sonntag hat geplante Veränderungen beim Tagi publik gemacht. So sei etwa ein Gesellschaftsbund möglich, eventuell auf Kosten des Medienbundes. Ist das eine Reaktion auf die MACH-Zahlen?

Nein. -- Ich kann allerdings nicht über ungelegte Eier gackern. Nur so viel: Wir haben mit Martin Kall einen neuen Chef, der nach den hektischen Jahren die Zukunft neu angehen will. Der Tagi wird weiterhin auf zwei Beinen stehen, die wir nicht gegeneinander ausspielen wollen: einem nationalen und einem zürcherischen. Das ist in der Schweiz eine spezielle Situation, andere Titel richten sich stärker regional aus. Der Tagi hat diese Entwicklung nicht mitgemacht, denn wir wollen eine Konkurrenz zur NZZ bleiben. Auch passt dieser Spagat zwischen Lokalem und Nationalem zu Zürich mit seinem internationalen Lebensgefühl.

Werden durch die geplanten Umstellungen neue Stellen geschaffen?

Es ist nicht die Saison für massive Erhöhungen des Redaktionsbudgets. Für Details ist es aber wirklich noch zu früh.

Wann kann der Leser mit den Neuerungen rechnen?

Auch das kann ich noch nicht sagen. Die Änderungen werden allerdings nicht revolutionär sein, der Tagi ist grundsätzlich richtig positioniert.

Sie sind seit zwei Monaten nicht mehr in der Tamedia-Geschäftsleitung. Wie hat sich die Fokussierung auf Ihre Kernkompetenzen bisher ausgewirkt?

Der Rückzug aus der Geschäftsleitung ist eine Entlastung -- für die übrigens auch meine Vorgänger Roger de Weck und Esther Girsberger kämpften. Dennoch habe ich in der Geschäftsleitung viel gelernt, wenngleich ich in erster Linie immer Chefredaktor des Tages-Anzeigers war. Im Zuge der Reorganisierung ist meine Anwesenheit in diesem Gremium nun nicht mehr nötig.


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