07.10.2013

NZZ am Sonntag

"Es wird relativ offen über die Juden als Unglück diskutiert"

Ehemaliger NZZ-Redaktor über die Schweiz.
NZZ am Sonntag: "Es wird relativ offen über die Juden als Unglück diskutiert"

Heftige Reaktionen provozierte ein "NZZ am Sonntag"-Artikel über die möglichen Gründe, weshalb die Deutschen aus der Schweiz fortziehen. Mangelt es den Schweizern tatsächlich an Weitsicht und Fähigkeit zur Selbstironie, wie es der deutsche Autor Christoph Plate unserem Land vorwirft? Im Interview mit persoenlich.com erklärt der ehemalige, langjährige "NZZ am Sonntag"-Auslandredaktor, was er unter schweizerischen Antisemitismus und unter fehlender Debattenkultur versteht.

Herr Plate, gestern veröffentlichten Sie den Artikel "Nix wie weg", der Gründe auflistet, weshalb die Deutschen die Schweiz verlassen. Was für Reaktionen haben Sie auf den Bericht erhalten?
Ich habe viele persönliche Mails bekommen, die meisten voller Zustimmung, von Deutschen in der Schweiz, aber auch von Schweizern, die nach Deutschland geflüchtet sind. Dass es auf der Website der NZZ, auf Facebook und Twitter aber auch solche gibt, die unter die Gürtellinie zielen, gehört dazu. Auf der NZZ-Website fanden qualitativ meist sehr gute Diskussionen zum Thema statt.  

Sie selbst haben über zehn Jahre in der Schweiz verbracht. War es tatsächlich so schlimm?
Dass ich manches gemocht habe in der Schweiz, steht in meinem Essay. Und dass wir eine Reihe sehr guter Schweizer Freunde haben, ändert nichts an der grundsätzlichen Kritik.  

Sie finden, den Schweizern fehle es komplett an Selbstironie. Woran liegt dies Ihrer Ansicht nach?
An der Angst anzuecken, anzustossen, aufzufallen.

Ihr Kollege Wolfgang Koydl, seit zwei Jahren Schweizer Korrespondent der renommierten Süddeutschen Zeitung, sagt in einem Interview mit persoenlich.com, die fehlende Selbstironie gründe im grossen Komplex gegenüber Deutschland. 
Man kann doch nun nicht alles in der Schweiz auf den Komplex gegenüber den Deutschen zurückführen. Fest steht, das Verhältnis der beiden ist geprägt von Missverständnissen.

Ist es möglich, dass auch Sie die Schweizer missverstanden haben? 
Natürlich. Es gibt unterschiedliche linguistische Codes, eine indirekte Art des Kommunizierens, die es leicht macht, einander misszuverstehen. Allerdings versteht man die nach zehn Jahren im Land meist ganz gut.

Sonst zeichnet Herr Koydl ein etwas anderes Bild der Schweizer als Sie. So sagt er beispielsweise: "Ich hatte befürchtet, dass die Schweizer mufflig, wortkarg und humorlos wären. Ich war bass erstaunt – und erfreut – über die Freundlichkeit, Redseligkeit und den ausgeprägten Sinn für Humor, die ich fast überall antreffe." Weiter bezeichnet er die Schweizer als "grundanständige, herzliche, hilfsbereite und liebenswürdige" Menschen. Warum haben Sie keine solchen Erfahrungen gemacht?
Einige meiner besten Freunde sind Schweizer und die sind anständig, herzlich und liebenswürdig. Es ging in dem Essay um die Frage, warum so viele Deutsche gehen. Und die gehen, obwohl sie Schweizer Freunde haben.

Sie werfen den den Schweizer "geistige Enge", "viele Vorschriften", "Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus vor". Können Sie diese Vorwürfe noch etwas konkretisieren?
Es wird praktisch nie gefragt, wie es der anderen Seite geht, es fehlt an Empathie, man bleibt in der Regel bei seiner Position, ist wenig bereit gegen den Strich zu denken, das Schräge und Andere zuzulassen. Alles muss seine Ordnung haben, die Rigorosität, mit der Regeln aufgestellt werden, wird übrigens oft von Rechten wie Linken getragen. Antisemitismus findet man in der Schweiz so, wie man ihn wahrscheinlich seit Jahrhunderten in Europa gefunden hat: Da wird relativ offen über die Juden als Unglück diskutiert, über Juden, denen man nicht trauen dürfe usw. Zahlreiche SVP-Kampagnen mit schwarzen Schemen, die nach dem Schweizer Pass greifen etwa, wären so oder ähnlich in vielen Ländern nicht denkbar, weil verboten. Unter der Prämisse gegen Denkverbote zu sein, wird gegen das Fremde, das von draussen kommt, gehetzt. Das kann sich eine entwickelte Gesellschaft im 21. Jahrhundert nicht leisten.   

In der Schweiz regiert gemäss Ihnen der Bünzli. Wen meinen Sie damit? Und was ist Ihrer Meinung nach genau ein Bünzli?
Ein kleinkarierter, sehr biederer Mensch, ein Spiessbürger.

Ihr Arbeitgeber war die "NZZ am Sonntag“. Ein typisch schweizerischer Betrieb?
Ich war gerne bei der NZZ.

Wie erlebten Sie die Schweizer Medienlandschaft?
Sehr lebendig, gemessen an der Grösse des Landes. Jeder kannte jeden und alle wollten irgendwann einmal zur NZZ. Der Konzentrationsprozess ist bedauerlich, aber natürlich nicht zu vermeiden.

Inwiefern unterscheidet sich die Arbeitsweise eines deutschen Journalisten von der eines Schweizer Journalisten?
Kaum. Jene, die am liebsten nur in der Studierstube hocken, gibt es dort wie hier. So wie es die Mehrzahl gibt, die gerne rausgehen und die fragen, warum etwas so ist wie es ist und nicht anders.

Welche Art der Debatten vermissten Sie in der Schweiz? 
Jene, ob die Minarett-Initiative nicht dümmlich ist, wie man mit Ausländern im Lande umgeht, ob das Unverständnis Europas über das Bankengeheimnis nicht doch nachvollziehbar ist, ob Neutralität denn eigentlich noch zeitgemäss ist, um einige zu nennen.

Haben Sie versucht, diese Debatten mit den Schweizern zu führen? 
Ja, natürlich. Mit den Freunden sind diese Debatten auch möglich, nur findet nichts davon in der Öffentlichkeit statt, anders als in anderen Ländern, in denen Journalisten, Politiker und die Öffentlichkeit über ein Thema miteinander streiten, es mischt sich auch noch mal der Präsident oder ein Bischof mahnend ein und am Ende steht ein Ergebnis. 

Interview: Corinne Bauer (Das Interview wurde schriftlich geführt)


Christoph Plate war von 2002 bis 2012 Auslandredaktor der "NZZ am Sonntag". In der Zürcher Redaktion betreute er vor allem die Themen Naher Osten, Südasien und Internationaler Terrorismus. Seit 2012 ist der 52-Jährige stellvertretender Chefredaktor der "Schwäbischen Zeitung" mit Sitz in Ravensburg.

 



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