11.11.2003

Flugjahre für Chefredaktoren

2003 ist ein Flugjahr für Chefredaktoren (CR) geworden. Einer nach dem andern wurde ausgewechselt. Peter Rothenbühler (Bild), 55, Chefredaktor von Le Matin, ist seit fünfundzwanzig Jahren CR bei verschiedenen Titeln. Aus persönlicher Sicht hat er im aktuellen "persönlich rot" 21 Fragen zur Anstellung und Entlassung von CR beantwortet, wovon "persoenlich.com" hier einen Auszug veröffentlicht. Rothenbühler nennt Situationen, aber -- aus Rücksicht auf die lieben Kollegen -- keine Namen. Er möchte schliesslich noch ein paar Jahre dazugehören.
Flugjahre für Chefredaktoren

Wie wird man CR?

So wie man Journalist wird. Keine Karriere gleicht der andern. Eins haben alle Papabili gemeinsam: den festen Willen, es zu werden. Dazu braucht es, wie bei künftigen Bundesräten, eine gute Portion Raubtierverhalten, wobei manchmal die Schmusequalitäten von Wildkatzen fast mehr geschätzt werden als der Biss. Was muss man können, um CR zu werden? Auch das ist nicht geregelt. Viele fühlen sich berufen. Eine Jodlerin und Ex-Playmate war keineswegs überrascht, als sie für den Job der Glückspost-Chefin angefragt wurde. Ein grosser Zürcher Verleger hat in einem Interview gesagt, er sei jederzeit in der Lage, alle seine CR zu vertreten. Obs einer wirklich kann, entscheidet sich auf dem Schlachtfeld, pardon, in der Praxis. Dort muss ein Chef schlicht alles können, er ist Intendant, Regisseur, Personalchef, Eheberater, Diplomat, Finanzchef, kurz: Er ist der Dompteur einer gemischten Raubtiertruppe. Ein immer lächelnder Stimmungsmacher unter Hochspannung.

Sind die besten Schreiber auch die besten CR?

Es gibt beides. Man lese die Texte von Chefs renommierter Schweizer Blätter wie NZZ oder Tagi. Es ist wie bei der Musik. Hervorragende Sänger sind meistens schlechte Operndirektoren. Und umgekehrt. Eigentlich sollten Chefs nicht zu oft solo spielen, sie müssen dirigieren, immer für das Blatt, die Mannschaft und die Leser ansprechbar sein. Kurze Kommentare sind hingegen Pflicht. Und Vorträge bei Rotary- und Werbe-Clubs.

Verdient ein CR viel?

Ja, aber er kriegt graue Haare, wenn er sich mit Topleuten anderer Branchen vergleicht. Dafür bekommt er das, wovon alle andern Manager nur träumen können: viel öffentliche Aufmerksamkeit. Das ist heute mehr wert als Geld oder Aktien. Ein lieber Kollege hat mir am Tag seiner Pensionierung gestanden, am meisten werde ihm das tägliche Zusammenleben mit der Redaktion fehlen. Und der bewundernde Blick der Damenwelt.

Wie werden CR entlassen?

Zum Beispiel so, wie sies in ihren Leitartikeln geisseln. Ich kenne eine CR, die durch ein zufälliges Telefon mit der Sekretärin des Personalchefs von der Entlassung erfuhr. Gerade habe ihre Nachfolgerin den Vertrag unterzeichnet, sagte die Sekretärin. Die allerseits beliebte Kollegin durfte mit der Ambulanz nach Hause fahren. Herzschwäche. In der Regel wird der CR kurzfristig ins Büro seines Bereichsleiters bestellt, wo er vom "Exekutionskomitee", bestehend aus Bereichsleiter, Personalchef und Personalassistentin, empfangen wird. Er versteht sofort, sie legen ihm die aufgesetzte Abgangsvereinbarung vor, "die Sie eigentlich nur noch zu unterschreiben brauchen". Es ist wie überall: unangenehm. Eigentlich müssten Verlage mit CR zeitlich limitierte Verträge machen, mit Verlängerungsmöglichkeit nach vier, fünf Jahren. Das wird bei einzelnen Häusern schon so praktiziert.

Fassen CR bei der Entlassung goldene Fallschirme?

Das war einmal. Als es noch harte Konkurrenz gab, zum Beispiel zwischen Neue Presse und Blick, sprach man von Drei- bis Vierjahresverträgen für Chefs und Ressortleiter. Heute gibts maximal ein Jahr Fortzahlung oder ein Jahr bezahlte Ausbildung (MBA) an einer Prestige-Uni in Übersee, inklusive Lohnfortzahlung. Die meisten Pressehäuser versetzen geschasste CR ins "Flaschenlager”, Reservebüros im dritten oder fünften Stock, wo altgediente Chefs ("Der Club der toten Dichter") bei gleich bleibendem Lohn ein bis zwei Jahre lang mit “speziellen Aufgaben" oder "Projekten" beschäftigt werden. Nach spätestens zwei Jahren muss ein neuer, eventuell weniger gut bezahlter Job her.


Kommentar wird gesendet...

KOMMENTARE

Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren