12.08.2003

Sommer-Tagebuch

Fred David über den Filz der Zürcher Journalisten

"Zehn Monate war ich Chefredaktor in Zürich. Erst seit dieser Erfahrung im Durchlauferhitzer weiss ich, was Filz wirklich heisst." Der ehemalige Cash-Chefredaktor Fred David (Bild) nimmt kein Blatt vor den Mund. Der Filz, so Davids Vermutung, hindere Zürcher Journalisten am Recherchieren. Obwohl es Geschichten zuhauf gäbe. --- Nach Ivo Bachmann und Kenneth Angst ist Fred David, inzwischen Journalist und Cash-Autor, der Dritte, der im Rahmen der Sommerserie von "persoenlich.com" eine Carte Blanche ausspielt:
Sommer-Tagebuch: Fred David über den Filz der Zürcher Journalisten

"Pssst! Ganz im Vertrauen und in garantiert engster Tuchfühlung mit Walter Bosch: Die Swiss steht in Geheimverhandlungen mit den United Emirats. Der Plan: Fusion beider Airlines mit dem Ziel, gemeinsam British Airways zu schlucken. Die Finanzierung übernimmt ein Bankenkonsortium unter Führung der Spar- und Leihkasse Triboltingen. Näheres entnehmen Sie bitte der Sonntagspresse. Und noch ein steuerfreier Gratistip: Am Freitag Swiss-Aktien kaufen, am Montag abstossen! Seit April hat sich der Kurs, niemand weiss warum, verdreifacht, mit messbaren Bewegungen übers Wochenende.

Ich bin seit 35 Jahren Journalist. Zehn Monate davon war ich Chefredaktor in Zürich. Erst seit dieser Erfahrung im Durchlauferhitzer weiss ich, was Filz wirklich heisst. In Zürich gibt es drei Sonntagszeitungen, drei Tageszeitungen, fünf Wirtschaftszeitungen und -magazine, ein Nachrichtenmagazin, zwei Wochenzeitungen, drei Illustrierte, ein nationales TV-Programm, mehrere Radioprogramme sowie ein zahlloses Heer von Sprechern und PR-Spezialisten, meist ehemalige Journalistenkollegen, die sich ihrer alten Kontakte eifrig bedienen. Die meisten Schweizer Journalisten pendeln ihr gesamtes Berufsleben lang auf einer Fläche von zwei, drei Quadratkilometern zwischen diesen medialen Fixsternen. Sie nehmen ihr Informantennetz, sofern überhaupt vorhanden, von einer in die nächste Redaktion mit.

Dabei gäbe es viel zu recherchieren. Zum Beispiel, warum sich Swiss Life ungestraft erlauben kann, sich zweimal hinter einander um je 250 Millionen zu ihren Gunsten zu verrechnen. Nichts passiert. Der Versicherungsaufsicht bescheinigt ein mit der Materie vertrauter Professor zu gleichen Zeit fast wörtlich Arbeitsverweigerung. Die Kartellkommission wird von einem ehemaligen Mitglied öffentlich der Funktionsunfähigkeit bezichtigt. Nichts passiert. Das Verfahren in Sachen Schweizerische Käseunion -- der grösste Fall von Subventionsbetrug in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte -- wird folgenlos eingestellt, wegen Verjährung, nicht mangels Beweisen. Nichts passiert. Letzte Woche wirft das Bezirksgericht Kreuzlingen im Verfahren gegen die Besitzer der ehemalige Schuhfabrik Reichle dem Staatsanwalt vor, den strafrechtlich relevanten Teil des Verfahrens bewusst bis zur Verjährung verschleppt zu haben. Nichts passiert. Das von Roche angeführte, illegale Vitamin C-Kartell mit einer Schadenssumme in Milliardenhöhe flog nur dank der Hartnäckigkeit der EU-Kommission auf. Die Vitamin C-Abteilung unterstand zu dieser Zeit dem Roche-Direktor Andres Leuenberger, einer der anerkannt mächtigsten Figuren im Schweizer Wirtschafts- und Polit-Filz. In der Schweiz: Nichts passiert.


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