09.06.2020

Black Lives Matter

«Für einen Korrespondenten sind es grossartige Zeiten»

Coronavirus und nun seit Tagen Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt: Alan Cassidy, USA-Korrespondent von Tamedia und Süddeutsche, über zum Teil gefährliche Recherchen, erschreckende Angriffe auf Journalisten und das etwas andere Wahljahr 2020.
Black Lives Matter: «Für einen Korrespondenten sind es grossartige Zeiten»
«Am Anfang gab ich mir noch Mühe, inmitten der Demonstranten auf Abstand zu bleiben, aber lange konnte ich das nicht durchziehen», sagt USA-Korrespondent Alan Cassidy. Zu sehen sind zudem Demonstranten der «Black Lives Matter»-Bewegung in Washington am 6. Juni 2020. (Bild: Keystone)
von Michèle Widmer

Herr Cassidy*, wie geht es Ihnen und Ihrer Familie in Washington?
In Washington sind wir von einem langen Lockdown direkt in die Ausgangssperren übergegangen. Das zehrte schon an den Nerven. Was die Proteste und die Polizeipräsenz angeht, hat sich die Lage aber sehr beruhigt. Wir hoffen jetzt, dass es bald mal doch noch so etwas wie Alltag gibt.

Am Samstag haben allein in Washington Tausende gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert, nachdem ein Polizist George Floyd bei einer Kontrolle getötet hat. Wie gehen Sie vor, wenn Sie über eine solche Veranstaltung berichten?
Ich trage eine Maske und einen gut sichtbaren Presseausweis. Am Anfang gab ich mir noch Mühe, inmitten der Demonstranten auf Abstand zu bleiben, aber lange konnte ich das nicht durchziehen. Ich glaube, alle hier hoffen einfach darauf, dass sich das Virus im Freien tatsächlich nicht so stark ausbreitet.

«Die Angriffe auf Medienschaffende in den letzten Tagen sind schon erschreckend»

Wie reagieren die Menschen, wenn Sie sie als ausländischer Journalist ansprechen?
Die Teilnehmer der Demos sind in meiner Erfahrung meist sehr offen und reden gerne mit Journalisten. Viele interessieren sich auch dafür, wie man aus Europa auf die Ereignisse blickt.

Man kann von zahlreichen Angriffen von Polizisten auf Journalisten, die über die Proteste berichten, lesen. Haben Sie selbst schon etwas in diese Richtung erlebt?
Zu Beginn der Proteste war ich in Minneapolis mit Demonstranten unterwegs. Kurz nachdem die Ausgangssperre in Kraft trat, raste ein Kastenwagen der Polizei heran. Daraus sprangen Polizisten, die sofort Rauchgranaten in die Richtung der Demonstranten warfen und mit Gummigeschossen auf sie schossen – ohne Vorwarnung. Weil ich gleich daneben ein Interview führte, war es eher Zufall, dass es mich nicht traf. Andere Kollegen wurden dagegen bewusst angegriffen, nachdem sie sich klar als Journalisten ausgewiesen hatten. Die USA sind nicht Russland oder China, Journalisten können sich frei bewegen – aber die Angriffe auf Medienschaffende in den letzten Tagen sind schon erschreckend.

Michael Brown in Ferguson oder Eric Garner in New York sind nur zwei von mehreren Todesfällen aufgrund von Polizeigewalt in den USA in den letzten Jahren. Auch damals gab es Proteste. Dennoch sprechen viele jetzt von einem möglichen Wendepunkt. Was unterscheidet die Proteste jetzt von denjenigen damals?
Es ist das schiere Ausmass der Proteste, die inzwischen nicht nur in den grossen Städten stattfinden, sondern auch in den Vororten und auf dem Land. Es ist ihre Breite, mit Teilnehmern aus ganz verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Und es ist wohl auch der Umstand, dass das Ganze in ein furchtbares Krisenjahr fällt, mit einer Pandemie, die die Menschen während Monaten in ihre Wohnungen zwang und grosses Leid angerichtet hat, unter den Afroamerikanern ganz besonders. Es hat sich viel aufgestaut in Amerika.

Erstmals befinden sich zahlreiche Weisse unter den Demonstranten. Warum ist das so? Und wie verändert das die Debatte?
Die Einstellung gegenüber Rassismus und Polizeigewalt hat sich unter weissen Amerikanern seit Beginn der ersten «Black Lives Matter»-Proteste verändert. Weisse Anhänger der Demokraten denken heute darüber gleich wie die Afroamerikaner. Das ist neu. Und selbst unter Republikanern gibt es ein grösseres Bewusstsein dafür, dass Schwarze vom Justiz- und Polizeisystem benachteiligt werden. An den Demos marschieren inzwischen sogar Establishment-Konservative wie Mitt Romney mit. Und in den Umfragen war die Unterstützung für die «Black Lives Matter»-Bewegung noch nie so gross wie heute.

Welche Situation oder Begegnung der letzten zwei Wochen ist Ihnen besonders geblieben?
Vielleicht die Stimmung bei der Gedenkstätte an der Strassenkreuzung in Minneapolis, wo George Floyd ums Leben kam. Die Leute dort waren voller Schmerz, aber auch voller Entschlossenheit, dass es damit ein Ende haben muss.

Sie leben seit zweieinhalb Jahren in Washington. Nehmen Sie Alltagsrassismus in den USA wahr?
In Washington gibt es auf kleinem Raum gewaltige Gegensätze. Im Nordwesten der Stadt hat es Gegenden, in denen man nur Weisse sieht. Die Häuserpreise sind dort astronomisch hoch. Im Südosten konzentrieren sich Armut und Gewalt – dort leben fast nur Afroamerikaner. Wir leben in einem gemischten Viertel. Und wenn unsere schwarze Nachbarin erzählt, wie sie mit ihren Kindern über gewisse Dinge reden muss, merkt man: Als Weisser kann man viele Schwierigkeiten nur erahnen, denen Schwarze täglich ausgesetzt sind.

Viele sind über das Verhalten von US-Präsident Trump verärgert. Warum schlägt er keine versöhnlichen Töne an? Warum verurteilt er Rassismus nicht, wie es viele fordern?
Es wäre für Trump tatsächlich nicht schwierig gewesen, versöhnliche Töne anzuschlagen. Solche Reden schreiben sich ja von selbst. Er hätte zum Beispiel auch George Floyds Familie ins Weisse Haus einladen können, um ein Zeichen zu setzen. Viele Amerikaner hätten ihm sowas vielleicht nicht wirklich abgenommen. Aber Trump hat es eben gar nie versucht. Selbst in seinem Umfeld halten das einige für einen Fehler.

Anders macht es Joe Biden, designierter Präsidentschaftskandidat der Demokraten. Er versprach den Demonstranten, sich für Polizeireformen und gegen Rassismus zu engagieren. Wie wirkungsvoll sind solche Aussagen in Bezug auf die Präsidentschaftswahlen im November?
Biden wird schon bald vor dem Problem stehen, dass er von ganz links mit radikalen Forderungen konfrontiert ist wie jener, den Polizeien alle Mittel zu entziehen. Er muss damit einen Umgang finden, ohne die junge, progressive Wählerschaft der Demokraten zu vergraulen, die sich ohnehin wenig für ihn begeistern kann. Dagegen werden Trump und die Republikaner versuchen, Biden in die Nähe genau solcher Forderungen zu rücken.

«Landesweit gibt es jeden Tag immer noch rund 20’000 Neuinfektionen, auch in Washington ist die Pandemie nicht im Griff»

Ganz generell: Welche Auswirkungen werden der Fall George Floyd und die jetzigen Demonstrationen auf den Wahlkampf und die Präsidentschaftswahlen haben?
Biden sieht in den Protesten und in Trumps Reaktion darauf eine Gelegenheit, sich als Alternative anzubieten: als Präsidenten, der heilt statt spaltet. Trump redet dagegen über die Proteste fast nur im Kontext der Ausschreitungen und Plünderungen, die zu Beginn der Proteste zu sehen waren. Welche Darstellung effektiver ist, hängt wohl auch davon ab, wie sich die Proteste weiter entwickeln – ob sie friedlich bleiben oder ob es zu neuer Gewalt kommt.

Die Proteste fallen inmitten der Coronakrise in eine unpassende Zeit. Wie ist die Situation in Washington in Bezug auf Covid-19 aktuell?
Nicht gut. Landesweit gibt es jeden Tag immer noch rund 20’000 Neuinfektionen, auch in Washington ist die Pandemie nicht im Griff. Und natürlich gibt es die Sorge, dass sich die Proteste in ein, zwei Wochen in noch höheren Fallzahlen niederschlagen. Während sich vor ein paar Wochen jedoch noch alle über ein paar Strandtouristen in Florida aufregten, ist das jetzt kaum ein Thema. Das irritiert schon.

Inwiefern hat das Virus Ihre Arbeit als Korrespondent beeinflusst in den letzten Wochen?
Ich war wegen des Virus weniger oft unterwegs, als ich mir das in einem Wahljahr erhofft hatte. Aber als Korrespondent einer Zeitung ist man ja fernab der Zentrale ohnehin sehr auf sich alleine gestellt. Die meisten Ideen macht man mit sich selbst aus. Ich glaube, manche meiner Kolleginnen und Kollegen in Zürich litten unter der Umstellung aufs Homeoffice mehr als ich.

«An das Jahr 2020 wird man sich noch sehr lange erinnern, weil es eben anders ist als jedes andere Wahljahr»

Ende 2019 haben Sie sich vermutlich darauf eingestellt, dass 2020 komplett im Zeichen des Wahlkampfs stehen wird. Vermissen Sie den ganz normalen Wahnsinn eines amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs?
Kurz nach Ausbruch der Pandemie habe ich es tatsächlich sehr bedauert, dass es so etwas wie einen Wahlkampf auf absehbare Zeit nicht geben wird. Aber spätestens jetzt, mit den Protesten, ist das in den Hintergrund getreten. An das Jahr 2020 wird man sich noch sehr lange erinnern, weil es eben anders ist als jedes andere Wahljahr. Auch wenn ich mir manchmal wünsche, es geschehe nicht ganz so viel aufs Mal: Für einen Korrespondenten sind es grossartige Zeiten.

Eine Prognose zum Schluss: Wird Trump wiedergewählt?
Bidens Vorsprung in den Umfragen ist gerade recht deutlich, aber ich glaube nicht, dass das bis zu den Wahlen so bleibt. Trump wird kaum je von einer Mehrheit der Amerikaner unterstützt werden. Also muss er alles dafür tun, um Biden noch unbeliebter zu machen, als er selbst es ist. Dafür hat er noch fünf Monate Zeit. Und das ist hier ein Erdzeitalter.


*Alan Cassidy ist seit Januar 2018 US-Korrespondent für die Tamedia-Redaktion und die Süddeutsche Zeitung mit Sitz in Washington. Zuvor war der 36-Jährige beim Tages-Anzeiger, bei der Schweiz am Sonntag und bei der Basler Zeitung als Inland- und Bundeshausredaktor tätig. Er hat in Zürich Politikwissenschaften und Wirtschaftsgeschichte studiert.



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