22.09.2020

Serie zum Coronavirus

«Im Kopf finde ich die strenge Haltung der Deutschen gut»

Charlotte Theile, frühere Schweiz-Korrespondentin der «Süddeutschen Zeitung» ist mitten im Shutdown nach Zürich zurückgekehrt. Im Interview spricht sie über den Sinn von Verhaltensregeln in der Coronakrise und über die Abstimmungen am Sonntag als Gradmesser.
Serie zum Coronavirus: «Im Kopf finde ich die strenge Haltung der Deutschen gut»
«Ich bin gerade erst dabei, zu verstehen, wieviele Möglichkeiten es im Journalismus gibt, Geschichten zu erzählen», sagt Charlotte Theile, früher Schweiz-Korrespondentin der «Süddeutschen Zeitung» und heute freie Journalistin. (Bild: zVg.)
von Matthias Ackeret

Frau Theile, dieses Jahr ist für Sie das Jahr der Rückkehr nach Zürich. Hat dies etwas mit Corona zu tun?
Ja, auch. Obwohl ich von Herbst 2019 an wieder viel in Zürich war, hat der Lockdown im März dazu geführt, dass meine endgültige Rückkehr schneller ging. Das sozial distanzierte Leben in meiner Wohnung in Leipzig fand schon nach ein paar Tagen ziemlich schrecklich. Darum bin ich am 24. März mit einem komplett leeren Zug und einem Fläschchen Desinfektionsmittel nach Zürich gereist – und dann mehr oder weniger hier geblieben.

Sie sind sowohl in Deutschland wie in der Schweiz unterwegs. Wird die ganze Krise bei unseren nördlichen Nachbarn anders wahrgenommen als bei uns?
Ich hatte das Gefühl, dass die Regeln in Deutschland strenger waren als in der Schweiz. Auch die Stimmung war eine andere. In Sachsen, wo es zeitweise nicht erlaubt war, allein auf einer Parkbank zu sitzen und zu lesen, war es zwischendurch recht grimmig. Aber natürlich haben sich diese strengen Regeln auch bewährt: Deutschland hat deutlich weniger Fälle als die meisten Nachbarländer. Insofern würde ich sagen: Im Kopf finde ich die strenge Haltung der Deutschen gut. Vom Gefühl her war es eher bedrückend.

Für Deutschland gilt die Schweiz mittlerweile als Risikoland. Warum eigentlich?
Weil es hier mehr Infektionen pro Einwohner gibt. Oder?

«Im Moment kann ich genau das machen, was ich möchte»

Sie gelten als Schweiz-Versteherin. Wie beurteilen Sie die momentane Stimmungslage in unserem Land?
Auf das Virus bezogen oder ganz allgemein?

Sowohl als auch.
Was das Virus angeht, hatte ich das Gefühl, die Schweiz könnte einen Wissenschaftler wie Christian Drosten gebrauchen, der die Zusammenhänge in seinem Podcast so beschreibt, dass normale Menschen sie verstehen und ihr Verhalten entsprechend anpassen können. Bei der Krisen-Kommunikation der Politiker war ich dagegen oft genervt. Ich hatte das Gefühl, dass es weniger darum geht, zu informieren, als darum bestimmte Verhaltensregeln durchzusetzen. Und ich glaube, da geht es den meisten so wie mir: Ich halte mich an Regeln, wenn ich ihren Sinn verstehe. Ohne das wird es schwierig. Was die generelle Stimmung im Land angeht, schaue ich jetzt vor allem auf die Abstimmungen am Sonntag – sie sind für mich der Gradmesser dafür, ob die Schweizerinnen und Schweizer sich wieder mit anderen Dingen beschäftigen können und wollen.

Sie arbeiten inzwischen als freie Journalistin. Ist das Leben härter geworden?
Nein, eigentlich ist es nur besser geworden. Im Moment kann ich genau das machen, was ich möchte.

Was heisst das?
Wenn ich eine Idee habe, die ich umsetzen möchte, dann kann ich das einfach tun. Auch wenn es etwas ist, was ich bisher noch nie gemacht habe – wie zum Beispiel die Podcast Night im Kosmos Anfang September oder Seminare für Schüler, die lernen, woran man Fake News erkennt. Ohnehin bin ich gerade erst dabei, zu verstehen, wieviele Möglichkeiten es im Journalismus gibt, Geschichten zu erzählen. Gerade in Zürich gibt es unglaublich viele kreative Leute. Ich habe das Gefühl, hier wird in den nächsten Jahren noch viel passieren.

Haben Sie sich vom Schreiben verabschiedet?
Nein, überhaupt nicht. Ich schreibe weiter gerne, auch mal ein klassisches, nachrichtliches Stück oder einen kurzen Essay. Aber es ist toll, Abwechslung zu haben.

Wie wird Corona den Journalismus verändern?
Gute Frage. Mein Gefühl ist, dass Corona nur die Entwicklungen beschleunigt hat, die ohnehin schon da waren. Die Frage, wie man mit Printjournalismus Geld verdient, ist in vielen Redaktionen immer noch offen. Und bei innovativen Ideen fehlt oft der Mut, langfristig zu investieren. Alle Medienhäuser sind jetzt damit beschäftigt, ihre Redaktionen umzubauen. Wenn das dazu führt, dass in neue Formate und guten Journalismus investiert wird, wäre das schön. Wenn am Schluss nur die nächste Sparrunde steht, werden sich die Menschen ihre Nachrichten und Geschichten eben anderswo suchen.

«Niemand weiss, wo er in einem Jahr stehen wird, ob er dann überhaupt noch lebt»

Sie machen einen Podcast, in dem Sie sich mit Beziehungen beschäftigen. Hat Corona mehr Beziehungen auseinander gebracht oder gestärkt?
Ich glaube in der Liebe ist es ähnlich. Eine Krise bringt das zum Vorschein, was vorher auch schon da war. Paare, die sich zuvor noch einigermassen ertragen haben, konnten einander im Lockdown nicht mehr ausweichen. Eine Berliner Scheidungsanwältin hat mir erzählt, dass sie im Frühling auf einmal fünf bis zehnmal so viele Anfragen hatte. Oft ist es gut, dass sich diese Paare trennen. Privat kenne ich aber auch einige Geschichten, die ganz anders verlaufen sind. Viele haben im Lockdown erkannt, dass sie nicht mehr so weit von ihren Liebsten entfernt leben wollen, haben gekündigt und sind zu ihrer Freundin gezogen – oder haben nach Jahren des Zögerns plötzlich entschieden, eine Familie zu gründen. 

Wo haben Sie die diesjährigen Ferien verbracht?
Mein Freund und ich waren im August in Dänemark, das war toll. Ausserdem war ich bei meinen Eltern in Deutschland und für ein paar Tage im Jura.

Was war für Sie das prägendste Erlebnis der letzten Monate?
Die Unsicherheit im Frühjahr. Davon musste ich mich lange erholen. Es war aber auch lehrreich. Niemand weiss, wo er in einem Jahr stehen wird, ob er dann überhaupt noch lebt. Man kann diese Unsicherheit nicht besiegen, ganz egal, wie gut man sich versichert. Also wollte ich lernen, mich darauf einzulassen.


Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com jeden Tag eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier.



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