Am Mittwoch fand ein Gerichtsprozess gegen notorischen Gewalttäter «Carlos» statt, allerdings ohne den Hauptdarsteller: Dieser weigerte sich, seine Zelle zu verlassen und ins Gerichtsgebäude zu gehen. Der Anwalt von «Carlos» stellte ein Dispensationsgesuch, weil der heute 24-Jährige in miserablem psychischen Zustand sei. Die Isolationshaft habe ihm schwer zugesetzt, eine Gerichtsverhandlung sei ihm nicht zuzumuten. Zudem habe er «schlicht Panik» vor dem Medienansturm.
Bekannt wurde «Carlos», den die Berichterstatter mittlerweile beim richtigen Namen Brian nennen, 2013 durch den «Dok»-Film «Der Jugendanwalt». Darin stellte Jugendanwalt Hansueli Gürber seinen erfolgreichsten Fall vor. Der damals 17-jährige «Carlos» schien durch ein Sondersetting zum ersten Mal seit langem auf die richtige Spur zu kommen.
«Sechs Jahre nachdem sein Fall vor allem auf dem Boulevard skandalisiert wurde, bleibt die Frage: Tragen gewisse Redaktionen eine Mitschuld daran, dass Brian nicht auf die richtige Bahn zurückgefunden hat und dass ihm nun gar eine Verwahrung droht?», fragt sich NZZ-Medienredaktor Rainer Stadler am Samstag in seiner Kolumne «In Media Ras». Es hätte damals nach dem «Dok» ein paar Tage gedauert, «bis der Boulevard die Wut über das Gezeigte entfachte». Schaue man sich den Film sechs Jahre später wieder an, verwundere die damalige Aufregung überhaupt nicht, so Stadler. «Ob das teure Experiment hätte gelingen können, wird man nie erfahren. Fern vom Scheinwerferlicht wären die Erfolgschancen zweifellos grösser gewesen», so Stadler weiter.
Stadlers Kolumne sorgte auf Twitter über das Wochenende für Diskussionen:
Also, Sie finden/fanden das Sondersetting auch übertrieben - aber der Boulevard ist schuld? Okay. Das ist wahrscheinlich Qualitätsjournalismus-Logik..
— Thomas Ley (@thomas_ley) November 2, 2019
Kein Grund für Zynismus, lieber Thoma. Ich halte dich sonst für ziemlich vernünftig, aber in dieser Geschichte spielt der Blick bis heute eine ganz üble Rolle.
— Liliane Minor (@MinorLili) November 2, 2019
Nicht Boulevard und nicht der Film haben das Sondersetting abgebrochen und Brain danach wiederrechtlich eingesperrt, sondern Verwaltung und Regierung.
— michael perricone (@miperrico) November 2, 2019
Eine Auseinandersetzung mit dem Fall «Carlos» und dem komplizierten Thema Jugendkriminalität: https://t.co/Q2oBxmqRVu Apropos Selbstgerechtigkeit: Es wäre sinnvoll, auf derart präzise Gerichtszeichnungen zu verzichten.
— Marius Born (@errance69) November 2, 2019
Auch Gürber ist der Meinung, dass damals Fehler passierten. «Ich hätte ‹Carlos› nicht in den Film nehmen dürfen. Ich verkannte, dass ich die guten Beziehungen zu den Journalisten nicht mehr habe», sagte der damalige Jugendanwalt 2016 in einem persoenlich.com-Interview. «Für mich war es in diesem gesamten Hype schwierig, weil mit Ausnahme der NZZ am Anfang alle Medien auf mich eindroschen.»
Anderer Meinung ist Rico Bandle in der «SonntagsZeitung»: SRF und «Blick» hätten «einen vorbildlichen Job» gemacht. «Dank ihnen wurde endlich publik, wie jugendliche Straftäter hierzulande umsorgt werden.» Dass der Regierungsrat im Zuge der Berichterstattung das Sondersetting plötzlich abgebrochen habe, sei allein ihm anzulasten, so Bandle.
Das Urteil gegen «Carlos» wird am Mittwoch gefällt. (cbe)
Kommentare
-
Roland Hof , 09.11.2019 06:37 Uhr
In jeder Gesellschaft gibt es eine kleine Minderheit - vielleicht 1-2% -, welche mit der aktuellen Lebenssituation nicht klarkommt. Sie sind drogensüchtug, arbeitsscheu, kriminell oder einfach Sonderlinge der Gesellschaft und fallen aus der Norm. Ein demokratischer Staat, eine funktionierende Gesellschaft muss sich auch um diese Leute kümmern. Das ist nicht einfach - weder für den Staat noch für die Betroffenen. Teure und zielgerichtete Sondersettings sind evt. eine Lösung, jedenfalls einen Versuch wert. Man frage doch einen x-beliebigen Kesp-Verantwortlichen, was denn so ein durchschnittliches Sondersetting in der Schweiz kostet. Und siehe da: das im Film vor 6 Jahren aufgezeigte Sondersetting bei Carlos war absolut durchschnittlich! Einmal mehr: der Laie staunt (oder ärgert sich), der Fachmann wundert sich (über die obstruse Diskussion in den Medien und am Stammtisch). -
Angelo Rizzi, 06.11.2019 20:18 Uhr
Das SVP-Plakat «Kosovaren schlitzen Schweizer auf» erschien im Jahr 2011. Also genau zu der Zeit, als das «Carlos»-Sondersetting in die Medien kam. Die Stimmung war extrem aufgeladen, die SVP schoss aus allen Rohren gegen Ausländer, Migranten, Flüchtlinge. Das Sondersetting kam der SVP gerade recht und zur rechten Zeit. Mit «Carlos» verpasste man Brian, so sein richtiger Name, einen entsprechenden Stempel, der keine Zweifel an seiner Herkunft aufkommen liess. Boulevard-Medien nahmen den Steilpass dankbar auf und erledigten den Rest, in dem sie die Bevölkerung erfolgreich gegen einander ausspielten - als willige Lakaien der SVP und im Rausch des Erfolgs der Auflagezahlen. -
Silvia Wohlgemuth, 03.11.2019 21:35 Uhr
Es wird so oder so nie eine richtige Lösung finden für Carlos. Sein Leben hat er verbaut. Tragische Geschichte