14.09.2016

Affäre Carlos

«Der Fall war eine Schweinerei»

Er hatte den Fall Carlos ins Rollen gebracht: Drei Jahre später nimmt Ex-Jugendanwalt Hansueli Gürber kein Blatt vor den Mund. Er kritisiert die Medien scharf, insbesondere den früheren «Blick»-Journalisten Andreas Kunz. Ein Gespräch über «mutlose Chefredaktoren» und Parallelen zwischen Journalisten und Jugendstraftätern.
Affäre Carlos: «Der Fall war eine Schweinerei»
Von den Chefredaktoren hätte er mehr Mut erwartet: Hansueli Gürber, pensionierter Jugendanwalt. (Bild: Buchcover Verlag Wörterseh)

Herr Gürber, haben Sie Angst vor Journalisten?
Nein, ich hatte noch nie Angst vor Journalisten. Ich war ja ab 1995 dreizehn Jahre lang Pressesprecher der Zürcher Jugendanwaltschaften und hatte damals – aus meiner Sicht – ein sehr gutes Verhältnis zu Journalisten. Ich bemühte mich immer, Antworten zu liefern und nicht einfach minutenlang in schönen Worten zu reden, sodass die Journalisten anschliessend überlegen mussten, was ich nun gesagt haben könnte. Ich denke, das wurde sehr geschätzt. Denn wer einfach nur Phrasen drischt oder mauert, muss damit rechnen, dass die Presse zu Spekulieren beginnt. Damals wäre es nicht vorgekommen, dass ein Journalist einfach so losknallt, ohne Kontakt aufzunehmen.

Sie meinen den damaligen «Blick»-Journalisten Andreas Kunz.
Ja. Ich wusste zwar, dass das Tagesgeschäft für viele Journalisten nicht sehr befriedigend ist und sie versuchen, von diesen Positionen weg zukommen. Aber ich unterschätzte das. Ich ging davon aus, alles wäre wie früher, wie zu den Zeiten, als ich Pressesprecher war.

Auch diesem Interview stimmten Sie nur unter der Voraussetzung zu, den ganzen Text gegenlesen zu dürfen.
Das hat einen anderen Grund: Wenn ich über gewisse Interna – also zum Beispiel wer wann was gewusst hatte – aus der Jugendanwaltschaft sprechen würde, hätte ich am nächsten Tag gleich ein Strafverfahren am Hals.

Jetzt, nach allem was passiert ist: Was hätten Sie anders machen sollen?
Ich hätte Carlos nicht in den Film nehmen dürfen. Ich verkannte, dass ich die guten Beziehungen zu den Journalisten nicht mehr habe. Vielleicht war ich auch deshalb unvorsichtig, weil ich befürchtete, dass meine Methode, mit der ich schwerstkriminelle Jugendliche erfolgreich wiedereingegliedert habe, in meinen Augen zwar ein Erfolgsmodell ist, nach meiner Pensionierung aber nicht mehr angewendet würde.

Hanspeter Bäni hat Sie jedoch auf die Brisanz des Filmes aufmerksam gemacht. Er sagte, Sie hätten geschmunzelt, mit den Worten: «Ich bin mir Gegenwind gewöhnt».
Nein, Hanspeter Bäni hat die Brisanz nicht erkannt. Er dachte auch: «Das geht». Und es ging ja auch bis um ein Haar (lacht). Wenn nur die Freundin von Andreas Kunz an jenem Abend nicht noch wach gelegen wäre… (lacht)

Hatten Sie Kontakt mit Andreas Kunz?
Nein.

Das stimmt nicht. Er hat Sie kontaktiert für ein Interview, schrieb das «Magazin».
Ja, am dritten Tag des ganzen Medienhypes. Nachher hatten wir nie mehr miteinander zu tun. Kunz schrieb mir damals ein SMS, das fast schon weinerlich klang: Er wäre so froh, wenn ich auch mal etwas sagen würde. Und bot mir ein «Integrales Interview» an, wobei ich mich zuerst informieren musste, was genau das ist: Zehn Fragen und zehn Antworten, bei denen nichts geändert wird. Als ich mir vor dem geistigen Auge dann eine «Blick»-Doppelseite vorgestellt habe, ganz klein links das Interview mit mir und daneben auf zwei Seiten gross einen Verriss, lehnte ich das Angebot ab. Denn am dritten Tag war alles noch immer voll am Hochkochen. «Blick» beherrschte das Spiel perfekt: Am ersten Tag einheizen, am zweiten Tag nachlegen und am dritten Tag dem Angeschossenen Platz einräumen. Hier wollte ich nicht mitspielen.

Warum nicht? Das wäre doch DIE Gelegenheit gewesen, mit Kunz das Gespräch zu suchen und, so wie sie es aus Ihrer früheren Pressesprecher-Zeit kannten, Ihre Sicht zu erklären.
Hinzu kam, dass die Oberjugendanwaltschaft zu diesem Zeitpunkt angeordnet hatte, dass nur noch sie zum Fall Stellung nehmen will. Ich ging natürlich davon aus, dass dies auch tatsächlich passieren wird. Doch das war falsch, denn Marcel Riesen-Kupper, Leiter der Oberjugendanwaltschaft und Regierungsrat Martin Graf traten nie vor die Presse, um alles zu erklären. Dabei hätten sie sehr einfach aufzeigen können, dass die Kosten für das Sondersetting gar nicht so hoch sind, wenn man die Relationen betrachtet.

Im ganzen Hype haben Sie Morddrohungen erhalten und Carlos wurde zurück ins Gefängnis verlegt. Was war für Sie besonders schlimm?
Ich mache den Beruf schon lange. Schon als Staatsanwalt und später als Jugendanwalt gab es Situationen, in denen ich bedroht wurde. Einmal schickte ich meine Familie übers Wochenende aus dem Haus, weil ich eine Bedrohungssituation vermutete. Ein anderes Mal machte mich ein Anwalt per Telefon aufmerksam, dass mein Klient – ein mehrfach gestörter Jugendlicher – Waffen besitzt. Als ich dann überlegt habe, was ich dagegen unternehmen könnte, musste ich mir sagen: «Wenn mich einer umbringen will, dann kann ich das nicht verhindern!». Klar, schaute ich, ob da einer komisch um mein Haus schlich. Aber was solls? Eine Chance habe ich eh nicht. Und ich habe null Bock mich zu verstecken.

Sind Journalisten auch auf eine Art Straftäter?
Wenn ich schaue, was Andreas Kunz gemacht hat, als er noch beim «Blick» war – muss ich sagen: Das ist eine Art Straftat. Das ist Gehilfenschaft zu Drohung oder Anstiftung zu Drohung. Es geht ja nicht darum, dass er die Kosten des Sondersettings auflistet und die Relationen aufzeigt, sondern er schreibt einfach das ist viel, viel zu viel und die da beim Justizdepartement sind alle übergeschnappt. Dann der Kontext: Ich, fotografiert mit meiner uralten, mittlerweile verstorbenen Boa um den Hals – wenn ein Leser das sah, musste er dein Eindruck gewinnen: Da ist ja einer voll durchgeknallt. Andreas Kunz aber, da bin ich sicher, wusste ziemlich genau, was er da in Gang setzte.

Warum haben Sie sich nicht gewehrt? Sie hätten Klagen können oder wenigstens an den Presserat gelangen?
(lacht) Gegen den «Blick»? So viel Geld habe ich schlicht nicht! Leute in meinem Umfeld rieten mir ab, denn die Ringier-Anwälte sind sehr gut bezahlt – darauf hatte ich keinen Bock.

Das ist doch ein Armutszeugnis für diese Instanzen, oder nicht?
Ich wollte das einfach durchstehen und damit fertig. Ich will auch einfach nicht alles an den Journalisten abladen, denn ich sehe deren Not. Ein anderes Problem sind die Leser! Was haben wir denn hier in der Schweiz für Leser – viele davon sind so saudumm. Denen muss man nur irgendeinen Knochen hinwerfen und schon springen sie.

Sind tatsächlich die Leser das Problem?
Ja, auch. Es gibt viele, die sich offenbar pausenlos empören wollen. Und dieses Bedürfnis erfüllen viele Zeitungen.  Ich muss auch jeden Sonntag grinsen über die Sonntagszeitungen. Jede von ihnen versucht bemühend irgendeine Geschichte zu einem Skandälchen aufzublasen. Schauen Sie sich mal diese Titelseiten an!

Nach dem Film nun haben Sie auch noch zu diesem Buch eingewilligt. Warum suchen Sie das Scheinwerferlicht schon wieder?
Der Fall war aus meiner Sicht eine Schweinerei. Ich habe lange den Gedanken rumgetragen, selber ein Buch zu schreiben. Die Art und Weise wie ich arbeite, wollte ich nochmals festhalten und erklären. Denn meine Methoden werden in Vergessenheit geraten – sie entsprechen überhaupt nicht mehr dem Zeitgeist.

Sind Sie eben doch ein Narzisst, wie ein Heimleiter im Buch über Sie sagt?
Das mag sein. Mir geht es um meinen Weg, um unkonventionelle Lösungen. Hinter jeder Geschichte steckt ein Schicksal eines Jugendlichen, ein Schicksal seiner Eltern und ein Schicksal seiner Opfer. Jugendliche in solchen Situationen tragen eine enorme Wut in sich. Eine Wut auf ihr Umfeld. Auf die Gesellschaft. Wenn man hier richtig ansetzt, bringt man keinen braven Bürger hervor, aber immerhin einen, der nicht einfach willkürlich Leute verdrischt. Er klaut vielleicht, aber macht keine gewalttätigen Delikte.

Nochmals zurück zur Medienberichterstattung: Wie erlebten Sie den Hype?
Für mich war es in diesem gesamten Hype schwierig, weil mit Ausnahme der «NZZ» am Anfang alle Medien auf mich eindroschen. Niemand hat die Gegenposition eingenommen. Ich selber durfte nichts mehr sagen. Hier hätte ich mehr Mut erwartet. Mut von den Chefredaktoren zu sagen: «Das machen wir jetzt nicht» – auf die Gefahr hin, etwas zu verpassen. Auch der «Tages-Anzeiger» machte zuerst mit, wenn er auch in der Berichterstattung weniger spitz und etwas zurückhaltender war als der «Blick», immer aber bereit zum Abdrücken, wenn es dann nötig werden sollte. Richtig schrecklich war, was die «Schweiz am Sonntag» geschrieben hat.

Schlagzeilen wie «Er wollte immer Rindfleisch» und «liess sich Armani-Parfüm schenken», meinen Sie?
Mit Fabienne Riklin von der «Schweiz am Sonntag» habe ich später einmal über alles gesprochen. Und das mit dem Rindfleisch war so: Carlos sagte jeden Tag er hätte gerne Rindfleisch zum Essen. Doch selbstverständlich haben wir seinen Wunsch nicht erfüllt. Vom Armani-Deo wusste ich nichts.

Dann wurde Carlos nach Holland gebracht.
Weil ich wusste, wie gefährlich es für Carlos war, weiterhin in der Schweiz zu bleiben. Denn würde ihn irgendein Leserreporter mit erhobenem Arm fotografieren, würde es schon wieder heissen im «Blick»: «Carlos – jetzt schlägt er wieder!». Dass er ins Ausland verlegt wurde, erfuhr dann aber leider ein Journalist von der «NZZ» und vermeldete es dann auch postwendend. Das verstehe ich nicht. Die «NZZ» verhielt sich sonst zurückhaltend in der ganzen Debatte.

Wo sehen Sie weitere Parallelen zwischen Journalisten und Ihren früheren Klienten?
Als die Gewalttaten aufflackerten, schlugen Jugendliche auf andere ein, wie sie es im Fernsehen oder sonst in Filmen sahen. Und waren dann ganz erstaunt, was sie anrichteten, dass das Opfer nämlich nicht zurückschlug, sondern nach dem ersten Schlag zu Boden ging und verletzt war. Sie verkannten die Realität.

Und die Journalisten?
Es ist ähnlich, für sie ist es wie ein Spiel. Als der erwähnte Journalist den Aufenthaltsort von Carlos entdeckt hatte, hörte ich von guten Journalisten bewundernd. «Wie hat der das nur rausgefunden?». Was aber die Bekanntgabe des Aufenthalts real auslösen würde, überlegte sich niemand. Es kam mir vor wie ein Spiel abseits des realen Lebens. Vielleicht tun sie das, weil der Chef solche Storys verlangt oder dann sind sie schlicht verantwortungslos.

Wahrscheinlich ist das karrierefördernd.
Ja, Kunz wurde ja kurz darauf stellvertretender Chefredaktor der «SonntagsZeitung».



Gürber

Ursula Eichenberger: Der Weichensteller. Jugendanwalt Gürber. Verlag Wörterseh, Gockhausen 2016. Das Buch kostet 36.90 Franken. Die Buchtaufe fand am Mittwochabend, 14. September in Zürich statt. (eh)


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KOMMENTARE

Nico Herger
18.09.2016 11:35 Uhr
Wie bei allen Links-Grünen gilt auch für Herrn Gürber: Geht etwas schief, sind immer die andern schuld. Entweder die Medien, die etwas öffentlich gemacht haben, oder ungenügende finanzielle Mittel. Oder beides.
Martin Keller
16.09.2016 18:51 Uhr
Wenn es nur solche wie Gürber in den Behörden und Ämter gäbe Frau Federer, dann ginge alles den Bachrunter, weils unsinnige Kosten gäbe. Herr Gürber: Vom Armani-Deo wusste ich nichts. Ich glaube der wusste noch vieles nicht, wenn die Journalisten nicht alles an den Tag gebracht hätten. Hab jetzt schon einige Interview von Herr Grüber gelesen und da sind immer alle andern schuld ( die saudummen Leser ), nur er hat alles richtig gemacht.
Barbara Federer
15.09.2016 13:30 Uhr
Hut ab vor Gürber! Solche Menschen braucht es bei den Behörden, Ämtern und der Polizei! Denn oft machen erst (unfähige) Menschen in solchen Ämter das Leben von "schwierigen" Jugendlichen und Erwachsenen kaputt. Aber auch davon haben geifernde (Blick-)Journalisten ja keine Ahnung ...
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