20.10.2013

Tages-Anzeiger

Sesseltausch im Zeichen der Konvergenz

Professorin Miriam Meckel staunte unter anderem über die vielen Konferenzen.
Tages-Anzeiger: Sesseltausch im Zeichen der Konvergenz

Chefredaktor Res Strehle dozierte an der HSG, während Miriam Meckel die Tagi-Redaktion steuerte: Der Sesseltausch von vergangener Woche brachte wahrscheinlich Wissenschaft und Praxis nicht viel näher, verlieh aber dem "Tages-Anzeiger" Inspiration in Sachen Konvergenz und Kommunikation. Und Professorin Meckel? Sie fand es "schön und interessant". Zudem staunte sie sowohl über die vielen Konferenzen, als auch über die grosse Dynamik im Newsroom.

"Die anwesenden Studenten schienen mir zwar nicht besonders medienaffin, die Mehrheit studiert Betriebswirtschaft. Doch sie waren mit grossem Interesse dabei und diskutierten auf eine gute Art mit", so "Tages-Anzeiger"-Chefredaktor Res Strehle. Dass Miriam Meckel vergangene Woche ihren Professorinnen-Sessel an der HSG mit ihm tauschte (persoenlich.com berichtete), war für Strehle "viel ergiebiger als erwartet", wie er im Interview mit persoenlich.com erklärt. 

Übergeordnetes Ziel des Sesseltauschs war, eine Annäherung von Wissenschaft und Praxis zu erreichen. Dass Miriam Meckel ihre vorübergehende Aufgabe äusserst ernst nahm, zeigt, dass sie bereits beim Start am Montag ihren Plan vorlegte, eine Samstags-Spezialausgabe zu einem Schwerpunktthema realisieren zu wollen. "Dass sie es schaffte, das Team für ihre Idee einer Spezialausgabe zu gewinnen, war sicher nicht einfach. In der ersten Sitzung am Montag war noch eher wenig Begeisterung für diesen Spezialeffort zu spüren, denn wir hatten ja mit dem Tagesgeschäft und aufgrund von Ferienabwesenheiten sowieso schon sehr viel zu tun. Doch schliesslich liessen sich alle überzeugen", sagt Print-Tagesleiter Alain Zucker im Gespräch mit persoenlich.com. Kurz vor der letzten Redaktionssitzung am Freitagabend nahmen sich Zucker und Online-Tagesleiter Sam Reber Zeit, zusammen mit persoenlich.com die vergangenen fünf Tage Revue passieren zu lassen.

 

Massstab in Sachen Konvergenz
"Es war eine inspirierende Woche. Miriam Meckel schätzt Print sehr, kennt aber auch die digitalen Kanäle sehr gut", sagt Sam Reber im Gespräch und auch Alain Zucker ist erfreut über das Experiment: "Der Moment für diesen Sesseltausch war günstig, weil wir momentan sowieso mitten in der Konvergenz-Umsetzung stecken. Mit ihrer klaren Vorstellung von Konvergenz, konnte Miriam Meckel wertvolle Inputs einbringen. Interessant war zu sehen, wie selbstverständlich für sie konvergentes Denken ist.  Diese Selbstverständlichkeit fehlt uns auf der Redaktion noch". Seit dem Start der Konvergenz sei die Redaktion noch am Lernen, wie man dieses Denken journalistisch optimal umsetzen kann. "So gesehen war die Woche mit ihr für mich auch eine Bestätigung, dass die Richtung stimmt, in die wir gehen", so Zucker. Und Reber doppelt nach: "Diese Woche zeigte, wo unser Ziel meines Erachtens sein muss. So wie Miriam Meckel Konvergenz vorlebte, dort müssen wir hin."

IT-Zwischenfall strapaziert die Nerven
Doch nicht nur aufgrund des Sesseltauschs war die vergangene Woche für die Tagi-Redaktion aussergewöhnlich. Die IT-Störung vom Dienstagabend steckte auch am Freitag noch in den Knochen, denn viele hatten in der Nacht auf Mittwoch entweder gar nicht, oder nur wenige Stunden geschlafen. Dass der Tagi erstmals in seiner Geschichte ausgerechnet während des Sesseltauschs nicht erscheinen könnte, beunruhigte die interimistische Chefin "schon etwas" wie sie im Gespräch mit persoenlich.com eingestand (vgl. Interview unten). Doch für Ihre Art des Krisenmanagements und vor allem für ihre transparente Krisenkommunikation erntete sie grosses Lob. "Dass Miriam Meckel in der Nacht nochmals zurückgekommen war, obwohl sie die Redaktion bereits verlassen hatte, überraschte und beeindruckte mich", sagt Zucker.

Transparente Kommunikation
Meckel habe nicht lange überlegt, was zu tun sei, sondern gleich selbst angepackt und mitgeholfen, den Zwischenfall kommunikativ zu begleiten. So kam es, dass die Tagi-Redaktion so offen und zeitnah über die Vorgänge in der Redaktion informierte, wie bisher noch nie. Fotos zeigten wie die Seitenabfolge mittels Post-its auf Flipchart abgebildet wurde. Und sogar ein Video, das Einblick in die Redaktionskonferenz verschafft, war am Mittwoch auf blog.tagesanzeiger zu finden. "Diese offene Art der Kommunikation über die Webseite und Social Media war nicht geplant, sondern entstand eher spontan. Wir diskutierten, ab wann wir über Twitter informieren sollten, jemand begann zu fotografieren und verschickte die Bilder über Twitter. Andere zogen nach", erklärt Zucker. Er zeigte sich fasziniert davon, wie man "eine solche Krisensituation über Social Media derart gut steuern kann". Auch Sam Reber ist der Ansicht, dass die Redaktion "den Shutdown vor allem auch kommunikativ sehr gut bewältigt" hat. Er freute sich über die mehrfach eingegangen Komplimente für die Transparenz über Blog und Social Media.

Auch wenn das Fazit positiv ausfällt: Die intensive Woche mit dem nervenaufreibenden IT-Zwischenfall und beträchtlichem Zusatzaufwand aufgrund der samstäglichen Spezialausgabe zerrte an den Kräften. Trotzdem nahm sich auch Miriam Meckel am späten Freitagnachmittag einige Minuten Zeit für ein Gespräch mit persoenlich.com:

Frau Meckel, was brachte Ihnen dieser Sesseltausch?
Res Strehle und ich haben uns bereits ausgetauscht. Wir sind uns einig darin, dass wir eine ganz andere Sichtweise auf die jeweils andere Seite gewinnen konnten. Dieser Rollenwechsel war eine schöne und interessante Erfahrung.

In der Tagi-Samstagsausgabe war Ihre Handschrift als interims Chefredaktorin deutlich festzustellen, vor allem über die Verlinkung der beiden Kanäle durch QR-Codes. Wo wollten Sie Akzente setzen?
Für den Samstag wurde eine „Tages-Anzeiger“-Ausgabe mit einem thematischen Schwerpunkt vorbereitet. Unter „Leben im Netz“ realisierten wir in verschiedenen Ressorts Themen zu diesem übergeordneten Schwerpunkt. Bei „Netzwerke“ geht es aber nicht nur um digitale, sondern auch um analoge Netzwerke, wie z.B. Altersvorsorge oder Nachbarschaftshilfe. Natürlich gibt es diese Themen nicht nur in der gedruckten Ausgabe zu finden, sondern auch Online.

Erklärtes Ziel des Sesseltauschs war die Annäherung zwischen Wissenschaft und Praxis. Inwiefern gelang es Ihnen, theoretische oder wissenschaftliche Inputs in die Redaktion zu tragen?
Ich versuchte bei den Themenschwerpunkten die Fragen einzubringen, die mich auch in der Forschung beschäftigen. Das hat sehr interessante Diskussionen ermöglicht in den Redaktionskonferenzen und auch in den persönlichen Gesprächen, die ich mit den unterschiedlichen Ressorts führen konnte. Die Digitalisierung, die Konvergenz-Bestrebungen und die generelle Zukunft des Journalismus bewegen die Mitarbeiter hier sehr, genauso wie wir uns in der Forschung sehr intensiv mit diesen Themen beschäftigen. Durch die in den Gesprächen gewonnen Einblicke, gelingt es mir in der Forschung dann eher, die richtigen Fragen zu stellen.

Was überraschte Sie auf der Redaktion des Tagi?
Mich überraschte ehrlich gesagt, wie viele Konferenzen es hier gibt (lacht)! Dabei handelt es sich nicht um sehr lange Konferenzen, sondern um viele sehr kurze Updates. Im Wissenschaftskontext gibt es zwar auch Meetings, doch diese sind in deutlich längeren Abständen angesetzt, als hier auf der Redaktion.

Was ist sonst noch aufgefallen?
Die Atmosphäre im Newsroom ist sehr kommunikativ und die Entscheidungswegesind kurz. Dies erzeugt eine grosse Dynamik. Wenn man aber wirklich etwas schreiben will, wird es kompliziert. Meinen Text für die Samstagsausgabe habe ich heute Freitagmorgen um 6 Uhr geschrieben. Zu dieser Zeit hatte ich genügend Ruhe, mich zu konzentrieren. Lange Stück hier im Newsroom zu schreiben, das ist eher schwierig.

Am Dienstag kam es zu einem gravierenden IT-Zwischenfall. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie erfuhren, dass die Mittwochsausgabe allenfalls gar nicht gedruckt werden kann?
Ich war beim Abendessen und wollte nochmals kurz bei der Redaktion vorbei schauen, um mich zu erkundigen, ob das bereits um 18 Uhr aufgetretene IT-Problem inzwischen hatte behoben werden können. Erst als ich hier ankam, erfuhr ich, dass unsicher ist, ob die Zeitung am Mittwoch überhaupt erscheinen kann! Die Vorstellung, dass ausgerechnet in der Woche unseres Sesseltauschs die Zeitung nicht herauskommen könnte, beunruhigte mich dann ehrlich gesagt schon etwas.

Wie gingen Sie vor?
Niemand konnte etwas unternehmen, wir waren abhängig vom IT-Service. Wir überlegten uns Szenarien, mittels derer wir die Situation und den Ausfall der Zeitung den Lesern erklärten könnten. Als um 2.00 Uhr das System wieder funktionierte, half ich beim Korrekturlesen und bei allem, was sonst noch anfiel.

Sie haben in Ihrer Forschungstätigkeit einen längerfristigen Auftrag bei der NZZ (Details vgl. persoenlich.com). Sind die Erkenntnisse, die Sie in dieser umfassenderen Verpflichtung gewinnen können, nicht relevanter für Ihr Praxisverständnis als diese nur einwöchige Erfahrung beim Tagi?
Das sind völlig verschiedenen Dinge: Erstens hat die praktische Zusammenarbeit mit der NZZ noch gar nicht angefangen. Zweitens ist der Sesseltausch beim „Tages-Anzeiger“ ein kurzer persönlicher Rollentausch. Für mich ist dies eine Möglichkeit, nochmals einen Blick in die journalistische Praxis zu werfen, jetzt wo sich vieles geändert hat, seitdem ich vor sehr langer Zeit einmal als TV-Journalistin gearbeitete hatte. Zum Auftrag bei der NZZ kann ich Folgendes sagen: Eines unserer Forschungsprojekte ist das Suchen nach Möglichkeiten für innovative Entwicklungen in der digitalen Welt. Innerhalb dieses Projektes arbeiten wir immer wieder auch mit der Praxis zusammen – so auch mit der NZZ.

Dieser Sesseltausch bringt keinen Loyalitätskonflikt mit der NZZ.
Nein, denn diese Sesseltausch-Aktion war lange vorher öffentlich bekannt und wurde in vielen Medien thematisiert. Insofern würde es mich wundern, wenn das jemand nicht mitbekommen habe. Abgesehen davon bin ich nicht in Geschäftsgeheimnisse involviert, sondern beschäftige mich mit den Veränderungen im journalistischen Arbeiten.

Am Montag nehmen Sie wieder auf Ihrem eigenen Sessel an der Uni St.Gallen Platz. Bei all den positiven Erfahrungen in dieser Woche als Chefredaktorin. Worauf freuen Sie sich?
Hier beim „Tages-Anzeiger“ genoss ich es, dass abends irgendwann alles erledigt ist. So kann man jeden Tag wieder neu beginnen. Täglich alle Papiere in den virtuellen oder analogen Papierkorb schmeissen zu können, gefiel mir ganz gut. Aber phasenweise arbeite ich schon sehr gerne langfristig und tiefgreifend. Einige meiner Projekte liegen bis zu drei oder vier Jahre auf meinen Schreibtisch, das gefällt mir schon. Ich denke gerne lange über ein Thema nach. 


Beim "Tages-Anzeiger" hofft man jetzt auf eine wiederum etwas weniger turbulente Woche, vor allem was die Zuverlässigkeit der IT-Infrastruktur anbelangt. Doch dass der Sesseltanz nicht nur für Miriam Meckel und Res Strehle erfreulich verlaufen ist, zeigen die Aussagen der Tagi-Mitarbeiter im auf blog.tagesanzeiger.ch veröffentlichten Video.

"Sehr inspirierend und erfrischend", bilanziert Wirtschaftsressort-Leiterin Rita Flubacher und Sam Reber zeigt sich derart begeistert, dass er Miriam Meckel sogar als Nachfolgerin von Tagi-Chefredaktor Res Strehle ins Spiel bringt: "Sie wäre ein Top-Kandidatin".

Text und Interview: Edith Hollenstein



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