21.08.2006

Kommentar

Matthias Knill zum Outing von Günter Grass

Gelungene Selbstinszenierung oder unkluge Kommunikation?

Spät, sehr spät hat sich Günter Grass zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS bekannt. Grass bricht damit ein jahrelanges Schweigen über einen Teil seiner persönlichen Vergangenheit.

Versteht sich das Outing als gekonnte Selbstinszenierung oder gelungenes Vorfeld-Marketing für die im September erscheinende Autobiografie? Schaden die Aussagen der Reputation des Literaturnobelpreisträgers? Vernichtet Grass den eigenen Markenwert?

In einem zweiseitigen Interview in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 12. August 2006 gesteht Grass überraschend, dass er sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat. Mit der Aussage widerspricht Grass früheren Aussagen, wonach er bis zu seiner Verwundung im Frühling 1945 als Soldat gedient habe.

Der richtige Zeitpunkt und die richtige Form?

In der Vergangenheit hätte es zahlreiche Gelegenheit zur Selbstoffenbarung gegeben: beispielsweise als er medienwirksam gegen den Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg protestierte. Aber auch 2003, als er seinen Freund Walter Höllner in Schutz nahm, der 1942 als Neunzehnjähriger Mitglied der NSDAP wurde. Oder vor wenigen Wochen, als er anlässlich der Eröffnung des PEN-Kongresses in Berlin über den Krieg sprach.

Der gewählte Zeitpunkt und die Form eines Interviews in einem führenden Tagesmedium sind insofern ungünstig, als dass die Kommunikation unmittelbar im Vorfeld der Publikation der Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebeln" als werbewirksame Massnahme interpretiert werden können.

Widerspruch zum früheren Bild

Als führender Schriftsteller der Nachkriegszeit nahm Grass eine gesellschaftskritische Haltung ein. Grass' Intention ist das "Schreiben gegen das Vergessen", weswegen seine Werke meist das Thema des Nationalsozialismus thematisieren bzw. vor dessen Hintergrund handeln. Auch die Werke Grass', die in der Nachkriegszeit handeln (z.B. „Im Krebsgang“), behandeln immer wieder die Thematik des Vergessens und der Schuld.

Durchgehend kommentiert Grass das gesellschafts-, wirtschafts-, aussen- und innenpolitische Tagesgeschehen. Auch bei komplexen politischen Sachverhalten hält Grass stets einfache Antworten bereit, bei denen Opfer (z.B. DDR-Bürger, Moslems) und Täter (z. B. Amerikaner) leicht identifiziert werden können. Mit dem Bekenntnis bricht Grass mit diesem Bild. Die Marke "Günter Grass" muss damit neu positioniert werden.

Inwieweit das Outing der Reputation von Günter Grass nachhaltig schadet, wird die Zukunft zeigen. Seine Glaubwürdigkeit hat Grass mit dem jüngsten Bekenntnis bestimmt nicht gestärkt. Auf den Hinweis der FAZ, dass Grass über seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS nicht hätte schreiben brauchen und ihn niemand dazu hätte zwingen können, sagte Grass: "Es war mein eigener Zwang, der mich dazu gebracht hat."

Fazit: Vermutlich wäre es für Grass einfacher gewesen, weiterhin zu schweigen resp. das Thema nicht in der Öffentlichkeit aufzuarbeiten. Falls der beschriebene "innere Zwang" die eigentlichen Beweggründe zum Outing gewesen sein sollten, so hätten wir eine Kommunikation in anderer Form und zu anderem Zeitpunkt empfohlen.



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