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Der Meister der Atmosphäre

Stefan Millius

Man sollte Claas Relotius, den Meisterfälscher vom «Spiegel», nicht in Schutz nehmen. Schon gar nicht, wenn man selbst Journalist ist. Schliesslich hat er in seiner kurzen Karriere unser aller Glaubwürdigkeit beschädigt. Und wer auch nur ein Detail seiner farbenfrohen Werkzeugkiste des kreativen Schreibens beschönigt, gerät unter den Verdacht, es selbst nicht so genau zu nehmen mit der Wahrheit bei der Arbeit.

Weil es also niemand darf, tut es auch keiner, aber «irgendeiner muss es ja tun», wie die deutsche Popikone Herwig Mitteregger einst gesungen hat. Denn es ist zwar gut, dass Relotius aufgeflogen ist, und es ist richtig, dass er seine Stelle verloren hat, weil er untragbar war. Wie aber sein Fall derzeit zu einer Art zweitem Watergate aufgebauscht wird, ist unverhältnismässig.

Relotius ist in der Gesamtschau zwar ein Hochstapler. Es ist aber dennoch nicht verboten, seine Taten in «richtig böse» und «ein bisschen böse» zu unterteilen. Denn er hat zwei Techniken entwickelt, die aus meiner Sicht unterschiedlich verwerflich sind.

Wenn Relotius beim Versuch, eine «Trump-Community» in den USA zu durchleuchten, einfach mal fiktive Mexiko-feindliche Schilder am Dorfeingang erfindet, ist das absolut unhaltbar. Erstens, weil er die Menschen dort damit unberechtigt in ein schiefes Licht rückt. Und zweitens, weil er zum Kernthema des Beitrags unkorrekte Informationen liefert. Diese Fälschungen haben die Story erst ermöglicht, und wer diese liest, hat danach ein falsches Bild. Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was Journalismus tun soll. Erfundene nichtexistierende Personen oder erfundene Zitate von existierenden Personen: Das alles geht nicht.

Anderes, und da mache ich mich in der Branche wohl unbeliebt, ist aus meiner Sicht aber halb so wild.

Der «Spiegel» suhlt sich in seiner Mitschuld und liefert rund um die Fälschungen ein Stück mit über 40‘000 Zeichen ab – neben einer Reihe weiterer Texte. Dort geht man auf das Psychogramm des «Täters» ein, aber auch auf seine verschiedenen Kunstgriffe. Was sich dort immer wieder findet: Der Verweis auf rein atmosphärische Details, die Relotius eingebaut hat, vor allem Musik. Wo auch immer der Mann recherchierte, es lief stets Musik, und zwar – welch Glück – stets solche, die den Charakter der Story betonte und der Geschichte eine weitere Dimension gab.

Da selbst ein traditionsreiches Magazin mit einer umfangreichen Dokumentationsabteilung nicht herausfinden kann, wo und wann welches Lied lief, war das nicht zu kontrollieren, der Star-Reporter hat selbst eingeräumt, dass er das meiste davon erfunden hat. Das trifft auch auf kleine Details zu, die er gesehen haben will, szenische Fetzen in grossen Reportagen, etwas, das am Strassenrand liegt, ein Dekorationsgegenstand in einem Zimmer, was auch immer.

Und das ist die Stelle, an der ich ganz leise «na und?» frage. Und mich dann schnell in Deckung bringe.

«Der Spiegel» hat den szenischen Einstieg in der deutschsprachigen Medienlandschaft salonfähig gemacht. Inzwischen versucht jeder Lokalkorrespondent in der tiefsten Zentralschweiz, den Bericht von der Bürgerversammlung durch die Schilderung von Gerüchten, Geräuschen und Stimmungen aufzuwerten. Wie viel davon wirklich stimmt und was sich vor allem im Kopf des Schreibers abgespielt oder dort zumindest angereichert wurde, ist offen.

Es fragt auch keiner danach. Denn der Effekt ist positiv: Die Schilderung kleiner, flüchtiger Eindrücke schafft für den Leser Nähe zum Ort des Geschehens, sie vermittelt ihm Orientierung im grossen Ganzen. Aber nur, wenn man es gut macht, und Relotius – hier eine kurze Verneigung – hat es besser gemacht als die meisten anderen. Seine Texte waren nicht zuletzt deshalb ein Genuss.

Diese atmosphärischen Stellen haben einen Teil des Leseerlebnisses ausgemacht, und sie haben die Story weder in die eine noch in die andere Richtung gedreht. Wären sie von reinen Fakten und wahren Zitaten umgeben gewesen: Ganz ehrlich, ich hätte damit leben können, dass Claas Relotius sie sich nur ausgedacht hat.

Ich weiss, dass das der reinen Lehre des Journalismus widerspricht, dass man das nicht tun darf. Und ich würde selbst nicht auf die Idee kommen, es zu tun. Aber ich bin Pragmatiker. Wäre der Hamburger bei den Tatsachen geblieben, hätten diese Kunstgriffe lediglich geholfen, sich dem Text und seinen Protagonisten noch näher zu fühlen. Und keiner hätte wirklich Schaden genommen.

Aber eben: Sagen darf man das natürlich nicht.



Stefan Millius ist geschäftsführender Partner der Kommunikationsagentur Insomnia GmbH und der Ostschweizer Medien GmbH in St. Gallen.

Unsere Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

 

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Kommentare

  • Robert Weingart , 23.12.2018 23:58 Uhr
    Es gibt kein schlimm und weniger schlimm. Falsch ist falsch. Wer fabulieren will, soll Romane schreiben und hat im Journalismus nichts zu suchen. In die Belketristik gehört Relotius hin.
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