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Fake it till you make it

Thomas Ruck

«Everyone had a plan until I punched them in the mouth», pflegte Mike Tyson zu sagen. Zu viele Marketers und Customer Experience Executives kennen das aus eigener Erfahrung. Der Schlag ins Gesicht kommt bei ihnen aber nicht von Mike Tyson, sondern von den Konsumentinnen und Konsumenten. Denn: 90 Prozent aller neuen Produktideen scheitern.

Der Grund dafür sind selten zu kleine Medienbudgets und daher mangelnde Bekanntheit oder fehlerhafte Produkte, die ihre Funktion nicht erfüllen. Die allermeisten scheitern aus einem banalen Grund: weil es – trotz gutem Plan und viel Marktforschung – keinen Markt dafür gibt. 

Da drängt sich natürlich eine Frage auf: Warum ist das so?

Ganz einfach: Wenn es um die Validierung von Ideen für neue Produkte geht, können wir uns nicht darauf verlassen, was andere denken, sagen oder versprechen.

Die gängigen Irrtümer

Sogar «Experten», die sich tagtäglich mit einem Industriezweig, dessen Produkten und Konsumenten beschäftigen, können  trotzdem verkehrt liegen, wie viele berühmte Beispiele von lange geplanten und gross angekündigten neuen Produkten zeigen. Und es kann auch andersrum schiefgehen: Einige der erfolgreichsten Romane aller Zeiten wie Harry Potter oder Moby Dick wurden zum Beispiel von den erfahrenen Fachleuten renommierter Verlage abgelehnt, bevor sie es über andere Wege in den Markt schafften.

Trauen Sie auch Ihrer eigenen Intuition nicht zu viel zu: Denn hätten Sie gedacht, dass ein neuer Service, dank welchem Sie sich nachts nach dem Ausgang ins Auto einer wildfremden Person anstatt in ein akkreditiertes Taxi setzen können, zum grössten «Taxiunternehmen» der Welt würde? Oder dass ein anderer Dienst, über welchen Ihnen ebenso fremde Menschen gar in Ihrer Stube übernachten können, zum weltweit grössten «Hotelier» würde?

Sie argumentieren nun zu Recht: Daten sind die Grundlage, auf welcher solche Entscheide getroffen werden sollten – und nicht Meinungen! 

Aber auch auf diese ist per se kein Verlass.

Natürlich gibt es massenhaft Marktdaten und «Evidenzen» von Mitbewerbern, die Sie heranziehen können. Aber hätte Elon Musk seine Entscheidung, Elektroautos herzustellen, davon abhängig gemacht, wie erfolgreich andere Automobilhersteller mit Elektroautos damals waren, dann wäre der Tesla Model 3 heute nicht das meistverkaufte Auto der Schweiz.

Fragen wir also die Konsumentinnen und Konsumenten selbst! Schliesslich gehören Marktforschung und Fokus-Gruppen ja zum Standardrepertoire jedes Marketers und «User-Tests» zum Zeitgeist von Customer Experience Executives.

Doch Achtung: Was Menschen sagen und später dann tun, sind oft zweierlei. Sagen Sie mir in der Befragung nur, dass Sie «mindestens zwei Mal in der Woche ins Fitnessstudio gehen würden», oder tun Sie es auch wirklich?

Wie können wir also vorhersagen, ob ein Produkt, das es noch gar nicht gibt, im Markt erfolgreich sein wird?

Die Lösung: Wir brauchen den Realitätstest, bevor das Produkt überhaupt existiert! Klingt schwierig, ist es aber nicht.

Der Reality-Check

Solange Menschen ihre Aussagen, Absichten und Versprechen nicht mit einem – idealerweise finanziellen – Einsatz untermauern, kann man sie nicht als möglichen Kunden oder Nutzer betrachten. Sie sind lediglich «Zuschauer» – denn sie haben nichts zu verlieren.

Anstatt sie zu fragen «if we build it, will you buy it?», sollten wir den Ansatz umdrehen und sagen: «If you buy it, we will build it.» Alberto Savoia hat dieser Technik den schönen Namen «Pretotyping» gegeben.

«Pretotyping» ist nicht zu verwechseln mit «Prototyping». Bei einem «Prototype» geht es darum, die Funktionstüchtigkeit eines Produkts zu testen. Die Kernfrage lautet: «Können wir es bauen?» oder «Wäre es so richtig gebaut?» Der «Pretotype» hingegen beantwortet die Frage: «Sollen wir es bauen?» Und das schnell (in wenigen Tagen) und günstig (mit wenigen Franken). Dafür aber mit harten, belastbaren Daten als Ergebnis.

Und wie bitte soll das gehen?

«Pretotypes» (vom Englischen «pretend») täuschen vor, dass es ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung bereits gibt. Sie versetzen damit Prospects in die Vorstellung, das Produkt kaufen zu können. Damit lässt sich echtes (Kauf-)Verhalten messen. Greifen genügend viele Personen zu, ist klar: Ja, die Nachfrage ist da, wir sollten es bauen.

Der Kreativität sind hierbei kaum Grenzen gesetzt. «Pretotypes» können viele Formen haben. Hier ein paar Beispiele: 

  • Fake Door: Tun Sie so, als ob Ihr Produkt schon existieren würde. Erstellen Sie zum Beispiel eine Website mit Produktinformationen und einem «Buy»-Button oder nehmen Sie Ihr neues Gericht schon auf die Menü-Karte, bevor Sie die Zutaten gekauft haben. Den Personen, die zuschlagen, erklären Sie freundlich, dass es noch nicht erhältlich sei, und drücken ihnen einen Gutschein in die Hand als Dankeschön, Ihnen harte Daten zur Nachfragesituation geliefert zu haben.
  • Pinocchio: Erstellen Sie eine nicht funktionsfähige Version Ihres Produkts und nutzen Sie Ihre Phantasie, um so zu tun, als würde es tatsächlich funktionieren. Dies kann so etwas Einfaches wie eine bemalte Büchse sein, die Sie als «Pretotype» eines Sprachassistenten in Ihr Wohnzimmer stellen und mit ihr sprechen. So sehen Sie schnell, ob und wie Sie das echte Produkt verwenden würden.
  • Mechanical Turk: Bevor Sie eine grössere Investition in die Entwicklung und den Bau eines funktionstüchtigen Prototyps oder gar fertigen Produkts tätigen, überlegen Sie sich, ob Sie menschliche Fähigkeiten einsetzen können, um eine Produkteigenschaft zu simulieren. IBM hat so vor Jahrzehnten die «Speech-to-Text»-Funktionalität mittels für die Testpersonen unsichtbarer, im Hintergrund tippender Menschen simuliert und so schnell und einfach getestet, ob eine solche Funktion ausreichend genutzt würde (sie wurde es nicht).
  • One-Shot-Offer: Bieten Sie eine reduzierte Vorabversion Ihres Produkts oder Ihrer Dienstleistung für eine sehr begrenzte Zeit an, um zu sehen, ob echtes Interesse besteht. Die Gründer von Airbnb haben so mit drei einfachen Luftmatratzen in ihrer Bleibe in San Francisco ihre ursprünglich verrückte Idee validiert (und ihre damals leere Haushaltskasse aufgefüllt). Der gleiche Ansatz führte den legendären Entrepreneur Richard Branson zur Gründung von Virgin Airlines, als er nach einem abgesagten Flug auf die Virgin Islands am Flughafen stehengelassen wurde und kurzerhand eine eigene Maschine charterte und die ebenfalls gestrandeten Passagiere einsammelte (die fast alle zustiegen).
  • Infiltrator: Nutzen Sie den Kundenstrom in einem bestehenden (stationären oder digitalen) Geschäft und stellen Sie ein Ausstellungstück Ihrer Idee in die Regale, um zu sehen, ob die Menschen es kaufen würden. So eindrücklich geschehen ebenfalls in San Francisco, als der Designer Justin Porcano seine Produktidee «Walhub» im lokalen Ikea unter dem Namen «Wälhub» uneingeladen zum Verkauf anbot.
  • Impostor: Verwenden Sie ein bestehendes Produkt als Ausgangspunkt für Ihr neues Produkt. Prüfen Sie dafür, ob es andere Produkte gibt, die nahe genug an Ihrer Idee sind und mit wenig Arbeit verwendet werden können, um das neue Produkt, das Ihnen vorschwebt, zu verkörpern. Nehmen Sie dabei wieder Tesla und Elon Musk als Vorbild, der einen Lotus Sportwagen leicht modifizierte, den Benzinmotor durch einen Elektromotor ersetzte und so den ersten Elektrowagen vorzeigen konnte, der auch echte Autofans und nicht nur Idealisten ansprach, die etwas für die Umwelt tun wollten. Dafür fanden sich schnell genügend Leute, die eine Anzahlung für das erste reale Exemplar tätigten. Einen besseren Beweis für «echte» Nachfrage gibt es kaum.


Welche Form Sie auch nutzen: Ihr Ziel muss dabei immer sein, von einer groben Idee mittels prüfbarer Hypothesen und schnellen und günstigen Experimenten zu harten Daten zu kommen – und basierend darauf fundierte Entscheidungen über die nächsten Schritte zu treffen.

Dieses Vorgehen kennen Sie bereits vom evidenzbasierten Experience Design. Mit dem «Pretotyping» haben Sie so nun auch das Werkzeug in der Hand, für noch nicht existierende Produkte mittels Experimenten belastbare Daten zum Marktpotenzial und der Erfolgswahrscheinlichkeit zu generieren.

Denn Businesspläne, für die es kein Business gibt, sind das Papier und die Zeit nicht wert.



Thomas Ruck ist Managing Director bei Accenture Interactive.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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