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Generation 20.zehn – Durchstarten oder Start-up?

Manfred Klemann

Mit dem Wort Start-up wird vielfach Schindluder getrieben. Viele Millionen haben Anleger verloren, weil sie Blendern aufgesessen sind, die eine meist komplex beschriebene, aber mit heisser Luft gestrickte Idee als Kern des Pudels verkaufen konnten. Wenn der Anleger dann die heisse Luft hinter der Firma bemerkt, ist sein Geld schon weg … auf Nimmerwiedersehen, und meist ist das Investment auch noch so konstruiert, dass es keine steuerlichen Verluste ergibt, um die eigene Steuerrechnung zu schmälern. Aufpassen!

Unternehmerisches Können bleibt bei jedem «Unternehmen» das A und O. Dass etwas faul läuft bei Investments in Start-ups, bemerkt man am besten, wenn man sich die Lohnlisten zeigen lässt. Wenn sich plötzlich die Gründer und «Start-upper» die höchsten Löhne im Unternehmen auszahlen lassen, obwohl sie ja beteiligt sind, dann Vorsicht! Hier ist die Grenze zum Betrug, zuungunsten der Anleger, meist erreicht. Nützt dem Investor aber nichts, wenn er sich nicht vertraglich umfassende (finanzielle) Informations- und Eingriffsgarantien hat geben lassen. Schlecht gemanagte Unternehmen können auch mit der besten Idee nicht reüssieren. Aber auch die beste Idee ist chancenlos, wenn nicht unternehmerische Qualität, Netzwerkdenken und ständige Innovation in das Start-up einfliessen. Wenn man mal die Portale von deutschen Crowdinvestment-Plattformen durchgeht, sieht man sehr offen, wie kurzlebig manche Gründungen sind, obwohl sie Hundertausende von Franken/Euro eingesammelt haben. Und wo ist das ganze schöne Geld geblieben? Und doch spricht vieles dafür, dass auch in Europa die Bereitschaft, kernigen Ideen durch Venture-Finanzierungen eine Chance zu geben, wächst. Und das ist gut so! Denn gerade die Generation 20.zehn wächst mit dem Bewusstsein auf, dass unternehmerisches und digitales Talent genauso hoch angesehen sind wie etwa das (seltene) politische Talent oder der Genius in einer angesagten Sportart wie Golf, Fussball, Tennis.

Und statt Energie dann in einen sinnlosen Konkurrenzkampf im Leistungssport zu verschleudern, wird 20.zehn vielmehr in Innovation, ja Revolution der bestehenden ökonomischen oder ökologischen Schwachsinnigkeiten investieren. Metallene Kästen, die sich Autos nennen, die auf Gegenfahrbahnen von Menschen gesteuert aufeinander zufahren: Das ist Mittelalter. Wertvolle Nahrungsmittel, die beim Essen übrig bleiben, einfach den Schweinen zum Frass vorzuwerfen: Das wird es nie gegeben haben. Krankheiten, die wir einfach so wuchern lassen: Das wird aufhören. Und Verbrennungsmotoren und Dieselgestank, welche Städte, Menschen, Kleinkinder zerstören: weg damit.

Jeder wird sofort hundert Dinge aufzählen können, bei denen er nicht fassen kann, dass es das immer noch gibt. Mein Lieblingsbeispiel: In Städten bringen inzwischen fünf bis zehn Paketdienste mit ihren Stinkerautos Bestellungen zum Kunden. Und die Politik (übrigens noch weltweit) und wir als Bewohner der Städte sind nicht in der Lage, diesen offensichtlichsten Umweltwahnsinn zu beenden. Da wird ein 20.zehner sofort helfen können.

Also, man merkt: Obwohl ich vier Generationen von der Generation 20.zehn entfernt bin, glaube ich, dass diese Generation den Sprung wagen wird, der so logisch erscheint und so nötig ist: den Sprung in eine technologisch, ökologisch, ökonomisch vernünftige Welt. Ein Denken, dass nur auf den Nutzen und den Fortschritt von allen ausgerichtet ist. Ein Denken, dass das «wir haben es immer so gemacht» endlich beenden wird. Und dann werden wir, die wir unsere Schäfchen im Trockenen haben, gerne einige der Schafe an die Generation 20.zehn abgeben.

Generation 20.zehn

Am nächsten Morgen erwache ich in einem Zürcher Hotel und gehe in den Frühstücksraum. Gut besucht; alles schweigt. Klar, morgens liest man die Zeitungen und lässt sein Gegenüber in Ruhe. Zeitungen? An keinem einzigen Tisch liest einer eine Zeitung. Und meine Frage an den Kellner nach einer Tageszeitung wird erstaunt registriert. Er müsse da erst an der Rezeption nachfragen, ob sie so was noch hätten … Später: Nein, sie hätten keine Zeitungen mehr, aber ich könnte einen Tablet-Computer bekommen. Um dann, wie die anderen Gäste, auf den Tisch zu starren, knapp am Teller vorbei, wo Smartphones oder Tablets und gerne auch Laptops liegen. Hier sitzt nicht die Generation 20.zehn. Hier sitzt der gut situierte ältere Handy-Sklave.

Ich fliege am Nachmittag mit Swiss in der Businessclass nach Palma. Ich freue mich, die neunzig Minuten im Flugzeug mit der genialen «Neuen Zürcher Zeitung» verbringen zu können, die ja – zumindest in der Businessclass – verteilt wird. Ich bekomme Wasser und ein Erfrischungstuch vor dem Abheben der Maschine; bloss, wo bleibt die Zeitung? Ich frage bei der Stewardess nach: Nein, Zeitungen habe man abgeschafft. Wollen die Gäste angeblich nicht mehr … Doch! Ich will! Ich will! Ich will!

Der Guru der Kommunikationswissenschaft, Marshall McLuhan, hat in einem seiner erfolgreichsten Werke über die «Extensions of Man» (Orell-Füssli-Verlag) philosophiert. Er sprach – seiner Zeit entsprechend – dabei vom Kran als Verlängerung (Extension) der Greifwerkzeuge, vom Rad als Erweiterung (Extension) der Beine, vom Fotoapparat als Extension der Augen. Mit dem Smartphone nun haben wir die Extension von Sprache, Gehör und Sehen in einem, und von Kommunikation allgemein im Gesamten. Der vornübergebeugte Mensch, der auf sein Handy starrende Mensch ist damit in der Logik des McLuhan eine Weiterentwicklung des Homo sapiens, der solche Weiterungen tatkräftig nutzt und auch problemlos in seine Welt integrieren kann und soll.

Steht es mir da zu, der ich den «kommunikativen Zufall» als zentrales Thema der Lebenswirklichkeit sehe, diese Extension schlechtzumachen? Nein. Natürlich wird die Generation 20.zehn weder verblöden noch verarmen und schon gar nicht kopfloser und dümmer sein als die Generationen vor ihr. Im Gegenteil: Wenn wir zurückschauen auf die Torheiten der Generation Golf oder der 68er-Generation, auf die Rassisten und Nazis der Zwanziger-, Dreissiger- und Vierzigerjahre, auf die Kleinstaatler und Adligen und Hörigen des 19. Jahrhunderts und deren Verhalten, werden wir eine prächtige Millenniums- und eine vorzügliche 20.zehn Generation bekommen.

Es gilt nur, wie bei jeder Extension unseres Lebens, welche wir ausprobieren und nutzen: Auf die Menge kommt es an. Ein Joint in der Woche schadet wohl nicht. Aber fünfzig Joints dann doch schon. Eine Flasche Rotwein am Wochenende verlängert und erfüllt das Leben; fünf Flaschen jeden Tag bringen einen früher ins Grab. Zum gelebten «Ego-Projekt» (R. Schawinski) gehört es, Spass und Mass zu haben. Fast eine Predigt, ich weiss. Aber wo ich gerade am Nebentisch zwei Paare sitzen sehe (gut in ihren Fünfzigern, würde ich tippen), die alle vier an ihrer Extension «Handy» hängen, darf ich in so einer Kolumne auch mal fürs rechte Mass beim Handykonsum predigen …

Und der oben zitierte Marshall McLuhan hat in seinem Buch «The Extensions of Man» keineswegs einem blinden Vertrauen in die jeweils nächste Erfindung das Wort geredet. Nach McLuhan verstärkt oder beschleunigt jedes neue Medium existierende Prozesse und «bewirkt eine Veränderung des Massstabes, der Geschwindigkeit, der Form und des Musters der menschlichen Zusammenarbeit, Beziehungen und Handlungen, wodurch psychische und soziale Konsequenzen entstehen». Wir sollten diesen Konsequenzen in positiver Offenheit, aber auch mit dem gebührenden Respekt unsere politische und menschliche Aufmerksamkeit schenken.



Manfred Klemann ist Serial Entrepreneur und einer
der Pioniere des europäischen Internets. Er gründete 1993 die Firma Unterwegs-im-Internet und später die Plattformen wetter.com, reise.com, internateportal.de und das Deutsche Wetter Fernsehen. Heute beteiligt er sich an aussichtsreichen Start-ups in der Schweiz und in Europa.

Unsere Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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