BLOG

Ich will diese Schmuggelware nicht!

Roger Schawinski

Das Ritual ist immer dasselbe. Jeden Sonntagmorgen schleppe ich vom Briefkasten miss­mutig vier Sonntagszeitungen hoch, weil ich weiss, dass als Erstes die ungeliebte Arbeit ansteht. Denn nun gilt es, möglichst schnell den schwergewichtigen und unerwünschten Ballast loszuwerden: die vielen Werbebeilagen, die Prospekte, die journalistisch nur man­gelhaft kaschierten Verlagsbeilagen und den ganzen übrigen Schrott – also das gesamte Instant­-Altpapier, das weiter anzuschwellen scheint. Und dann liegt der verbliebene Rest vor mir, die immer sklerotischeren Zeitungsbünde, die laufend mehr eingedampft werden, um weitere Kosten zu sparen. Irgendetwas läuft hier grundsätzlich schief. Vor allem die Sonntagszeitungen werden zu Tarnprodukten, mit denen die an sehr vielen Briefkästen schriftlich abgewiesene Werbung eingeschmuggelt wird, um so auf klandestine Weise doch noch in die Häuser zu gelangen. Und das Erstaunlichste: Niemand setzt diesem Unfug Grenzen. Wenn die minutengenauen TV-­Quoten während Monaten ausfallen, jault die Werbeindustrie auf, weil ihr die Entscheidungsgrundlagen entzogen seien. Zeitungen liefern hingegen seit Jahrzehnten vergleichsweise butterweiche Nutzungsdaten und haben damit trotzdem einen Grossteil der Werbeeinnahmen eingesackt. So weiss niemand, wer den Artikel auf Seite 16 oder das ganzseitige Inserat auf Seite 33 auch nur im Vorbeiblättern zur Kenntnis genommen hat. Aber man kann immerhin davon ausgehen, dass die einzelnen Zeitungsbünde – wenn auch in unterschiedlichem Ausmass – auf eine gewisse Resonanz stossen. Für die Werbebeilagen gibt es überhaupt keine Angaben, nicht einmal Schätzungen. Allein die individuellen Werte über den Abverkauf der angepriesenen Lockvogelangebote liefern gewisse Rückmeldungen. Aber Zahlen, wie viele Prozent der Zeitungskäufer diese Werbeprodukte jeweils reflexartig und subito entsorgen, liefern die Verlage wohlweislich nicht. Ich schätze, die Antworten würden das zurzeit extrem florierende Geschäft, das die generell rasant wegbrechenden traditionellen Werbeerlöse ersetzen soll, massiv in Misskredit bringen. Die realen Kontaktzahlen würden in grotesker Weise von den ausgewiesenen Leserdaten abweichen und die Tausenderpreise in schwindelerregende Höhen schrauben. Also wird alles getan, um diese Daten auf keinen Fall zu erheben oder gar – behüte Gott! – auch noch zu publizieren. Weshalb aber lässt sich die Werbeindustrie auf einen solchen Deal ein? Offenbar profitieren viele direkt Beteiligte von der Produktion des farbig bedruckten Altpapiers. Und da sogenannte Werbespezialisten, die angeblich ausschliesslich auf wissenschaftlich erhobene Quoten fixiert sind, sich im Zweifelsfall wie Lemminge verhalten, tun sie eben das, was so viele andere auch tun, und hoffen, damit bei ihren Auftragsgebern nie in Erklärungsnotstand zu geraten. Und weil sich die händeringend nach neuen Einnahmen suchenden Verlagsmanager ebenfalls nicht lumpen lassen wollen, erfinden sie laufend weitere Verlagsbeilagen, die ausser ihnen kein Mensch braucht – nicht die Werbetreibenden und schon gar nicht die Leser, die auf der Suche nach unabhängiger, verlässlicher Information trotz vieler neuer Alternativen noch immer auf Bezahlprintprodukte zurückgreifen. Dass sie dabei jeweils zuerst den ständig anschwel­lenden und nicht bestellten Abfall entsorgen müssen, wird wohl je länger, desto weniger als akzeptiertes Ärgernis empfunden und das beschleunigen, was die Verlage unbedingt verhindern wollen: den rasanten Niedergang der gedruckten Zeitung.
Kommentar wird gesendet...

Kommentare

Kommentarfunktion wurde geschlossen

Die neuesten Blogs

13.04.2024 - Hansmartin Schmid

Die Schweizer Medien und die Kriege

Die Schweizer Auslandberichterstattung ist in deutsche Hände geglitten.

12.04.2024 - Klaus-Dieter Koch

Attraktivität braucht Kontrolle

Warum Hermès, Rolex und Co ihre Marken nicht an jeden verkaufen können.

Zum Seitenanfang20240419