Herr Galler*, die Online-Marketing-Branche steht aufgrund des baldigen Stopps der Third Party Cookies auf Chrome vor grossen Veränderungen. Sie sind optimistisch. Warum?
Ich bin davon überzeugt, dass der Third Party Cookie mehr Schaden für die Branche anrichtet als Nutzen stiftet, insbesondere in Bezug auf Transparenz und Kundenvertrauen. Es ist an der Zeit, dass sie neue, Privacy-freundliche Verfahren einsetzt. Das ist mit viel Aufwand verbunden, aber langfristig der richtige Weg. Nur eine innovativere und kundenfreundlichere Datennutzung wird es der Branche ermöglichen, in eine Kommunikation mit dem Endnutzer zu kommen, die positiv und für beiden Seiten vertrauenswürdig ist.
Ganz konkret: Was wird ab 2024 im Online-Marketing noch möglich sein, was nicht?
Werbetreibende oder Mediaagenturen, die bestimmte Zielgruppensegmente erreichen wollen, wenden sich aktuell häufig an spezialisierte Unternehmen. Diese sammeln mittels Third Party Cookie-Einsatz grosse Datenmengen über Mediengrenzen hinweg und erstellen daraus Zielgruppensegmente. Die Werbeplatzierung wird beim Medienunternehmen eingekauft, die Zielgruppe – also wen ich erreichen will – kommt allerdings von den Drittanbietern. Mit dem Wegfall des Third Party Cookie wird das Geschäftsmodell dieser Drittanbieter fundamental eingeschränkt. Sie werden über weit weniger Daten verfügen und damit die Anforderungen vieler Kampagnen nicht mehr erfüllen.
«2024 wird man mit derselben Mediaplanung nur noch etwa 20 bis 30 Prozent der Zielgruppe erreichen»
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wenn Sie als Flugunternehmen Interessenten erreichen wollten, die eine Asienreise in Betracht ziehen, wird man 2024 mit derselben Mediaplanung nur noch etwa 20 bis 30 Prozent der Zielgruppe erreichen, die Sie heute erreichen. Viele Werbetreibende werden sich dann entweder mit einem Umfeld-Targeting (Context Targeting) zufriedengeben müssen oder sie werden in Kauf nehmen müssen, dass das Erreichen der Zielgruppe stark reduziert ist.
Die Veränderungen betreffen mit dem Browser Chrome 70 Prozent aller Nutzerinnen und Nutzer. Inwiefern sind auch Apps betroffen?
Bei Apps ist die sogenannte Advertising ID das Gegenstück zum Third Party Cookie. Auch sie ermöglicht es, Daten über verschiedene Apps hinweg zu sammeln. Apple hat bereits Einschränkungen veranlasst – unter anderem das sogenannte App Tracking Transparency, welche das Sammeln von Nutzerdaten stark beschränkt haben. Google hat angekündigt, dass auch sie im Android OS auf die Mechanismen der Privacy Sandbox, die auch im Browser zum Einsatz kommt, setzen werden. Damit ist klar, dass auch Apps von den Veränderungen bei der Datensammlung und -nutzung für Werbezwecke betroffen sind.
Wie hoch werden die Einbussen in der Branche aufgrund des Google-Entscheids sein?
Es ist aktuell unmöglich, die Einbussen zu quantifizieren, da noch viele Aspekte ungeklärt sind. Auch hängt es von den einzelnen Unternehmen ab, ob Sie sich frühzeitig auf diese «Umstellung» einlassen und dadurch die Einbussen abmildern können. Persönlich rechne ich mit einigen Monaten oder Quartalen, in denen die Werbeeinnahmen von mittelständischen Medienunternehmen, die noch über zu wenige eigene Daten verfügen, um circa 10 bis 20 Prozent sinken werden. Danach wird sich das Ökosystem wieder eingependelt haben und beide Seiten – Werbetreibende sowie Medienunternehmen – werden sich an veränderte Verfahren der Zielgruppenansprache angepasst haben.
Und Google wird profitieren?
Google hat – ebenso wie Meta, Amazon oder andere grosse Internet-Konzerne – eine relativ tiefe Abhängigkeit von Third Party Cookies. Eben weil sie über viele direkte Kundendaten verfügen und keine Drittanbieter für die Ausspielung von Zielgruppensegmenten benötigen. Dadurch sind sie weniger betroffen und werden eventuell sogar davon profitieren, ja.
«Ich rechne mit einigen Monaten oder Quartalen, in denen die Werbeeinnahmen von mittelständischen Medienunternehmen, die noch über zu wenige eigene Daten verfügen, um circa 10 bis 20 Prozent sinken werden»
Welche möglichen Alternativen gibt es Stand jetzt?
Aktuell wird an folgenden drei Alternativen gearbeitet: Google testet die Konzepte Fledge und Topic. Fledge ermöglicht es Werbetreibenden, Internetnutzer auf ihren Seiten zu «markieren» und zu einer spezifischen Zielgruppe zusammenzufassen. Dies, um sie dann über die Angebote der Medienunternehmen wieder zu erreichen. Topic ist ein Verfahren, bei dem Internetnutzer auf der Grundlage der letzten Seitenbesuche einem oder wenigen Zielgruppensegmenten zugeordnet werden, über die sie dann direkt ansprechbar sind.
Was wäre eine andere Lösung?
Klassische Drittanbieter von Daten, die bisher mit Third Party Cookies gearbeitet haben, versuchen nun über E-Mail-Adressen ihr Geschäft weiterzuführen. Dieser Ansatz ist stark eingeschränkt, weil er die Motivation des Nutzers voraussetzt: Er geht davon aus, dass mehr und mehr Internetseiten ein Login per E-Mail-Adresse erforderlich machen, diese Nutzer also aktiv mitmachen. Darüber werden dann Daten – mit dem Einverständnis des Nutzers – zusammengeführt. Auch unternehmensübergreifende Login-Allianzen setzen auf dieses Konzept.
Auch die Schweizer Medienhäuser haben mit einem gemeinsamen Digital-Allianz-Login reagiert. Welches Potenzial sehen Sie darin?
Ich glaube, solche Allianzen können durchaus sinnvoll und erfolgreich sein. Wichtig ist, dass der Wert der Nutzung eines solchen Logins für den Endnutzer hoch und nachvollziehbar ist. Google, Meta und andere haben bereits vor Jahrzehnten entsprechende Konzepte und Technologien auf den Markt gebracht. Um hier konkurrenzfähig zu sein, ist sehr viel Technologie und Produkt-Know-how eine Voraussetzung.
Sie sprachen von drei möglichen Alternativen, an denen gearbeitet wird. Welches ist die dritte?
Ein vielversprechender Ansatz ist der Fokus auf sogenannte First Party-Daten. Dabei nutzen Medienunternehmen die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen, um ihre Nutzer besser zu verstehen und eine qualitativ hochwertige Zielgruppendefinition zu gewährleisten. Bei diesem Ansatz werden keine Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammengeführt, was auch direkt alle datenschutzrechtlichen Aspekte erfüllt und eine hohe Transparenz und Kontrolle der Datennutzung für die Endnutzer zulässt.
In diesem Bereich haben Sie Ihr Know-how. Ihre Firma 1plusX setzt seit 2014 auf eine First Party-Lösung. Warum schon damals der Fokus darauf?
Als wir unser Unternehmen im Jahr 2014 gründeten, setzten wir drei Schwerpunkte: Transparenz, Kontrolle, Wertschöpfung. Wir wollten vollständige Transparenz für die Nutzer in Bezug auf das, was mit ihren Daten geschieht; das ist mit Third Party Cookie-Lösungen nicht möglich – und haben uns daher auf First Party-Datenlösungen fokussiert. Ebenso wollten wir Nutzern die Kontrolle über die Anwendung ihrer Daten geben, etwas, das mit einem First Party-Datenansatz viel stringenter umsetzbar ist. Und schliesslich waren wir der Überzeugung, dass es im Sinne der Medienunternehmen ist, wenn sie Zielgruppensegmente auf der Grundlage ihrer eigenen First Party-Daten errechnen können und dabei unabhängig von Drittanbietern werden. Dadurch können Medienunternehmen auch den Wert ihrer Nutzerbasis steigern und generell eine weiterführende, wichtigere Rolle im digitalen Marketing einnehmen.
Wie konkret funktioniert Ihr Produkt?
Wir setzen Techniken der künstlichen Intelligenz ein, um anonyme Nutzer auf der Grundlage ihres Medienkonsums den Zielgruppen zuzuordnen. Das heisst der Nutzer selbst muss keine E-Mail-Adresse oder andere Daten angeben, damit beim digitalen Marketing das Zielgruppen-Targeting anwendbar ist.
Welche Informationen über die Nutzerinnen und Nutzer werden gesammelt?
Wir erfassen das Lese- beziehungsweise Surfverhalten von Nutzern im Internet, um mittels unserer künstlichen Intelligenz Vorhersagen zu treffen. Die Datenerfassung und alle damit verbundenen Berechnungen setzen das Einverständnis der Nutzer gemäss geltenden Datenschutzvorschriften voraus.
Third Party Cookies sammeln Daten aufgrund des Surfverhaltens. Ihr Produkt trifft Annahmen über Nutzerinnen und Nutzer aufgrund von künstlicher Intelligenz. Ist die Qualität zu vergleichen?
Third Party Cookies sammeln Daten über Mediengrenzen hinweg. Das heisst, sie vermischen Daten, die auf unterschiedlichen Seiten oder Anwendungen entstehen oder erhoben werden. Unser Produkt beschränkt sich auf jene Verhaltensdaten, die bei einem Medienunternehmen beziehungsweise einem Medienangebot entstehen. Wir vermischen keine Daten aus unterschiedlichen Quellen. Die Qualität der Daten unserer KI wurden sehr häufig – in speziellen Benchmarks – mit jenen Daten von Drittanbietern verglichen: Unser Ansatz konnte immer die weitaus bessere Qualität liefern.
«Der Wegfall des Third Party Cookie wird wohl zu einer vermehrten Datensammlungsaktivität führen»
Google hat das Aus der Third Party Cookies auf Ende 2023 verschoben. Inwiefern nützt dieser Aufschub für bessere Alternativen?
Dieser Aufschub ist Good News, insbesondere auch für Schweizer KMUs, bei denen das Thema noch nicht genügend präsent ist. Die von der Umstellung betroffenen Unternehmen haben jetzt knapp zwei Jahre Zeit für die Vorbereitung und entsprechende Tests. Das ist wichtig, um weiterhin den reibungslosen Betrieb des digitalen Marketings zu gewährleisten.
Man wird sich im Netz wohl häufiger einloggen, dafür weniger Datenschutzhinweise wegklicken müssen: Welche Veränderungen ergeben sich für die Nutzerinnen und Nutzer?
Exakt. Viele Medienangebote werden sich – was bereits jetzt bemerkbar ist – hinter Login-Anforderungen begeben. Internetnutzer werden mittels Onlineumfragen auch wesentlich öfter nach ihrer Meinung, ihren Interessen oder sonstigen persönlichen Angaben gefragt werden. Der Wegfall des Third Party Cookie wird wohl zu einer vermehrten Datensammlungsaktivität führen, allerdings eben datenschutzrechtlich korrekt und hoffentlich auch für den Nutzer besser nachvollziehbar und transparenter.
*Jürgen Galler ist Mitgründer und CEO von 1plusX, einem Unternehmen, das auf Predictive Data Analytics von Nutzerinnen und Nutzern digitaler Dienste spezialisiert ist. 1plusX wurde im März 2022 vom US-Werbetechnologieunternehmen TripleLift übernommen. Zuvor war Galler Chief Strategy Officer und Mitglied der Konzernleitung von Swisscom und Produkt Management Direktor von Google in Europa.