18.03.2021

Frauen-Protest bei Tamedia

«Der Brief vermischt, was nicht zusammengehört»

Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger äussert sich zum Protestbrief ihrer Kolleginnen. Zudem sagt sie, welche Veränderung aus ihrer Sicht bei Tamedia nötig wäre.
Frauen-Protest bei Tamedia: «Der Brief vermischt, was nicht zusammengehört»
Michèle Binswanger Journalistin beim Tamedia, Autorin und Bloggerin. (Bild: Andrea Zahler)
von Matthias Ackeret

Frau Binswanger, wie ist die Stimmung innerhalb der Tamedia-Redaktion nach der Publikation des Briefs der Frauen?
Natürlich hat dieses Schreiben nicht zur guten Stimmung beigetragen. Die Verunsicherung ist gross, vor allem auch, weil im Brief sexistische Sprüche gleichgesetzt werden mit legitimen inhaltlichen und redaktionellen Fragen. Da werden kritische Ansichten zur Verwendung des Gendersterns als Beweis für strukturellen Sexismus angeführt. Das ist für die redaktionelle Diskussionskultur nicht förderlich.

Wie erklären Sie sich, dass noch mehr Frauen und auch mehr Männer unterschrieben haben?
Wenn es um Sexismus geht, ist die Solidarität mit den Betroffenen gross. Man unterschreibt, um zu signalisieren, dass man das Problem anerkennt, selbst wenn man es persönlich nicht so erlebt. Solidarität war ein Hauptmotiv des Männerbriefs und spielte auch beim Frauenbrief eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Erleben Sie die Tagi-Redaktion auch als «sexistisch» und «diskriminierend»?
Nein, ganz im Gegenteil, man hat sich beim Tagi schon früh um einen höheren Frauenanteil bemüht, davon habe ich profitiert. Zwar hatte ich in meinen sieben Jahren hier persönliche Differenzen mit Mitarbeitern, es gab Entscheidungen, die mir nicht passten, manchmal vergriff sich auch einer im Ton. Aber ich habe das nie auf mein Geschlecht bezogen. Oft habe ich mir mehr Frauen im Team gewünscht, meine Kollegen übrigens auch. Systematische Ausgrenzung von Frauen oder Frauenthemen habe ich nicht erlebt. Natürlich musste auch ich manchmal für ein Thema kämpfen oder wurde damit nicht ernst genommen, von Männern wie von Frauen. Damit muss man leben.

«Tamedia muss mehr Frauen einstellen und befördern. Wenn wir auf allen Ebenen hälftig vertreten sind, ändert sich auch das interne Klima und der Auftritt gegen aussen»

Was müsste sich auf der Tamedia-Redaktion ändern?
Ganz einfach: Mehr Frauen einstellen und befördern. Wenn wir auf allen Ebenen hälftig vertreten sind, ändert sich auch das interne Klima und der Auftritt gegen aussen. Wenn zudem konkrete Fälle von sexueller Belästigung oder sexistischem Umgang bekannt werden, muss man schnell reagieren. Vielleicht sollte man sich auch mal bei der Redaktion von 20 Minuten erkundigen, was sie besser machen. Die Frauen dort haben nämlich nicht unterschrieben.

Wieso haben Sie als «Entdeckerin» des Gender-Themas nicht unterschrieben?
Ich bin nicht die «Entdeckerin» dieses Themas, mich haben diese Fragen einfach zeitlebens interessiert. Gerade nach MeToo habe ich viel dazu recherchiert – und einiges dazu geschrieben. Was ich dabei gelernt habe ist, wie sorgfältig und genau man bei solchen Vorwürfen sein muss. Das ist auch der Grund, warum ich nicht unterschrieben habe. Der Brief vermischt vieles, was nicht zusammengehört. Der zentrale Vorwurf, es herrsche ein durch und durch sexistisches Klima in den Redaktionen von Tamedia, Frauen würden systematisch übergangen und kleingehalten, sorgt zwar wie beabsichtigt für grosse Aufmerksamkeit. Aber ich habe das so nicht erlebt.

Hat man auf Sie Druck ausgeübt, damit Sie unterschrieben?
Nein.

Nun wird Claudia Blumer, die selbst unterschrieben hat, als Vertrauensperson eingesetzt. Ist man da überhaupt neutral?
Claudia Blumer ist eine hervorragende Journalistin, eine Vertrauensperson auch gegenüber jüngeren Mitarbeiterinnen und auf alle Seiten gut vernetzt. Man braucht an einer solchen Stelle eine integrierende Person, die das Vertrauen wieder herstellen kann. Das traue ich Claudia Blumer zu.

Hätte Sie diese Aufgabe nicht gereizt?
Nein.

Was erwarten Sie konkret von der ganzen Untersuchung?
Ich erwarte belastbare Daten, die Aufschluss darüber geben, ob es in den Redaktionen von Tamedia wirklich systematischen und strukturellen Sexismus gibt. Wenn das der Fall ist, müssen schnell Massnahmen getroffen werden. Und wenn nicht, sollte ebenso breit darüber berichtet werden, wie jetzt über den Brief.



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Kommentare

  • Victor Brunner, 19.03.2021 09:46 Uhr
    Im Gegensatz zu Supino, Rutishauser ordnet Michèle Binswanger den Brief richtig ein. Relativiert, ohne die grundsätzlichen Anliegen zu negieren. Klarsicht statt Blindflug mit Bruchlandung!
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