Michael Steiner, in den letzten Wochen haben Sie viele Interviews gegeben und sind zahlreichen Menschen begegnet. Was bleibt Ihnen besonders in Erinnerung?
Die herzlichen Reaktionen des Publikums. Die Menschen werden durch «Und morgen seid ihr tot» offensichtlich berührt. Der Film löst etwas aus und lässt sie nochmals über diese Entführung und das Verhalten der Medien nachdenken.
Wie kamen Sie in Berührung mit der Geschichte?
Ich lebte damals in Südostasien und habe die Freilassung aus den Zeitungen mitbekommen. Von Anfang an haben mich diese zwei extrem gegensätzlichen Ansichten beschäftigt: Auf der einen Seite die beiden Menschen, die dem Tod entronnen sind und von ihrer Flucht erzählen. Auf der anderen Seite die harschen Reaktionen aus den Medien. Über meinen Produzenten habe ich Kontakt mit Daniela Widmer und David Och aufgenommen. Bald war ein gegenseitiges Vertrauen da.
Bis der Film fertiggestellt werden konnte, verging aber viel Zeit.
Ja, zuerst gingen die Arbeiten gut voran. 2016 stockte das Projekt dann aber. Erst mit Produzent Lukas Hobi und Drehbuchautor Urs Bühler nahm die Sache wieder Fahrt auf.
Warum so kompliziert?
Diese Geschichte ist emotional enorm aufgeladen, es gibt viele Involvierte und unterschiedliche Gewichtungsmöglichkeiten, die Beziehung der beiden, die Geschehnisse in der Schweiz, der Blick auf die Taliban. Bis das alles geordnet ist, braucht es seine Zeit.
«Die Schlagzeile ‹Sorry, wir haben kein Bedauern› ist kaltherziger Zynismus»
Sie hätten einen «anwaltschaftlichen Zugang» wird immer wieder gesagt. Stimmt das?
Nein. Ich erzähle die Geschichte einfach aus der Perspektive von Daniela und David, was auch Sinn macht. Ich würde es deshalb einen anständigen Zugang nennen. Die Medien haben sich damals in ihrer Beurteilung geirrt und haben darum etwas Mühe zuzugeben, dass sie sich in der Wortwahl vergriffen haben.
Können Sie die Kritik an den beiden denn überhaupt nicht nachvollziehen?
Nein, ich habe diesen harten Ton, sie seien doch selber schuld, nie verstanden. Die Schlagzeile ‹Die Schweiz hat die dümmsten Geiseln der Welt› ist herablassend und ‹Sorry, wir haben kein Bedauern› ist kaltherziger Zynismus. Wie kann man so mit Menschen umgehen, die nach einer langen Geiselhaft in ihre Heimat zurückkehren? Mitgefühl wäre da angebracht gewesen.
Ist die Schweiz zu wenig abenteuerfreudig und hat deshalb so reagiert?
Das glaube ich nicht. Die Schweizerinnen und Schweizer reisen gerne und oft. Gerade meine Generation hat die finanziellen Mittel und die Zeit, unterwegs zu sein. Wir sind ein reisefreudiges Volk. Ich bin überzeugt, dass das ausschliesslich eine mediale Reaktion war und nicht die Meinung der Bevölkerung widerspiegelt. Die Medien haben mit ihrem Auftritt aber relativ rasch auf die Volksmeinung abgefärbt.
«Ich habe mit unzähligen Beteiligten gesprochen und lange recherchiert»
Sie sagen, Sie erzählen die Wahrheit. Wieso sind Sie sich da sicher?
Die Wahrheit ist der Befund mehrerer Parteien, dass sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen hat. Dank zahlreicher Quellen und breit abgestützter Fakten wird ein Befund objektiviert. Ich habe mit unzähligen Beteiligten gesprochen und lange recherchiert. Der Film ist die Essenz all dieser Aussagen.
Haben Sie nirgends zugespitzt?
Doch, natürlich. Das geschieht bei jedem Film. Es muss komprimiert werden; gerade, wenn die Zeitspanne so lange ist. Es wird Spannung erzeugt, man muss Abstriche machen. Das ändert aber nichts an der Grundaussage.
Neben der Wahrheit ist die Frage der Verantwortung der zweite grosse Pfeiler des Films.
Ja, und zwar Verantwortung auf allen Ebenen: Was war die Verantwortung der Medien, die Verantwortung der Entführten, aber auch: Was ist meine Verantwortung als Filmemacher?
Was ist Verantwortung denn für Sie?
Grundsätzlich, dass man für sich, seine Mitmenschen und die Umwelt das Bestmögliche zu erreichen versucht. Ich sorge mit meinem Verhalten dafür, dass alles einen möglichst guten Verlauf nimmt und möglichst wenig Schaden entsteht.
Die Dreharbeiten wurden durch die Pandemie erschwert und verzögert. Weg vom Einzelfall: Wie haben Sie als Schweizer Filmemacher die letzten 18 Monate erlebt?
Vielen meiner Berufskolleginnen und Berufskollegen hat es den Boden unter den Füssen weggezogen. Bei mir war das anders. Es kam mir ein wenig vor wie eine von aussen auferlegte Auszeit. Ich war in einem Angestelltenverhältnis, konnte kreativ sein und arbeiten. Ausserdem liess ich mich früh impfen. Ich vertraue auf die Wissenschaft und bin überzeugt, dass sie sich durchsetzen wird.
«Die radikalste Veränderung in meinem Leben war sicher die Vaterschaft»
Haben Sie in dieser Zeit mehr Musse gehabt für den Blick auf andere Schweizer Filmschaffende?
Ich interessiere mich unabhängig von der Pandemie für den Schweizer Film und schaue mir regelmässig neue Werke an. Der Grossteil meiner Freunde hat aber nichts mit der Branche zu tun und da ich mit meiner Freundin mit Pop-up-Konzepten auch in der Gastronomie tätig bin, besteht mein Leben nicht nur aus Film.
Zurück zum Film: In vielen Interviews mit Widmer und Och geht es um die Veränderung über die Zeit. Wie ergeht es Ihnen beim Blick zurück?
Die radikalste Veränderung in meinem Leben war sicher die Vaterschaft. Meine Kinder sind heute elf und neun Jahre alt. Dazu kam eine Scheidung. Mein Leben und meine Filme überlappen sich immer wieder, sind verflochten miteinander und beeinflussen sich auch. Grundsätzlich hoffe ich natürlich, dass ich mit dem Alter auch weiser geworden bin.
Das klingt versöhnlich.
Ein Vorteil ist sicher, dass das Alter dem Beruf des Regisseurs nicht abträglich ist – im Gegenteil. Die Kreativität nimmt nicht ab, die Erfahrungen machen einen klüger, man entscheidet besonnener. Im Sport oder in der Rockmusik zum Beispiel ist es sicher schwieriger, das Alter zu akzeptieren.
Was spielt das Reisen und Unterwegssein für Sie für eine Rolle?
Reisen ist die Essenz von allem. Ich kann von meiner Neugier nie genug kriegen und die Liste der Orte, die ich sehen möchte, wird deswegen nie abgehakt sein. Ich bin dankbar, dass ich einen Beruf habe, der es mir erlaubt, regelmässig in fremde Kulturen einzutauchen. Der Mensch ist ein mannigfaltiges Wesen, unser Planet eine Oase des Lebens.
Michael Steiner wurde 1969 in Hergiswil geboren und studierte Ethnologie, Kunstgeschichte und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Später arbeitete er als Journalist, Pressefotograf und Regisseur. Diverse Auftragsfilme und Werbespots. Bekannt wurde er mit «Nacht der Gaukler» (1996). Steiner ist mit «Mein Name ist Eugen» (2005), «Grounding» (2006) oder «Wolkenbruch» (2018) einer der kommerziell erfolgreichsten Schweizer Regisseure. Momentan arbeitet Steiner an einer sechsteiligen Krimiserie für SRF, die in Basel spielt und zum Nachfolgeprojekt des «Bestatters» werden soll. Die erste Staffel soll im Herbst 2022 ausgestrahlt werden.
*Dieser Text von Raphael Amstutz, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.