18.03.2025

Gislerprotokoll

«Auch eine Frau dürfte für den Witz sorgen»

In nur einem Jahr ist der Anteil klischeehafter Werbung in der Schweiz von 50 auf 16 Prozent gesunken. Nina Bieli, Präsidentin des Gislerprotokolls, erklärt diesen «Klischeeknick» und warum es in der Werbung dennoch Nachholbedarf gibt – besonders wenn es um humorvolle Frauenrollen geht, die bisher kaum vorkommen.
Gislerprotokoll: «Auch eine Frau dürfte für den Witz sorgen»
«Wir glauben an die Relevanz von klischeefreier, inklusiver Kommunikation», so Nina Bieli, Präsidentin Gislerprotokoll.

Nina Bieli, die Stereotypen-Analyse 2024 zeigt: Nur 16 Prozent der analysierten Spots enthalten noch männliche oder weibliche Stereotype. Was überrascht Sie selbst am meisten an diesem Ergebnis?
Dass wir so ein Ergebnis in einer Zeit kommunizieren können, in der konservative bis reaktionäre Bewegungen wieder an Popularität gewinnen.

Von 2021 bis 2023 enthielt konstant rund die Hälfte der Spots Stereotype, nun sind es plötzlich nur noch 16 Prozent. Was hat in den letzten zwölf Monaten diesen dramatischen Rückgang bewirkt?
Dramatisch im Sinne von negativ ist der Rückgang aus unserer Sicht ja nicht, aber ich gebe Ihnen natürlich recht: Da hat sich richtig was getan. Ich könnte jetzt sagen, dass das einzig der Arbeit unserer Mitglieder zu verdanken ist – dafür möchte ich ihnen allen im Übrigen ein riesiges Dankeschön aussprechen. Aber das erklärt die Veränderung wohl nicht ganz. Natürlich hat es geholfen, dass wir gemeinsam seit nun vier Jahren das Thema Stereotype in der Werbung in der Branche hochhalten, Kund:innen sensibilisieren und tracken, wo wir stehen. Dass es nun aber innerhalb eines Jahres so einen deutlichen Schritt gab, zeigt, dass es wohl einen Tipping Point gibt, an dem ein Thema so präsent ist, dass es nicht mehr wegzudenken ist und entsprechend Eingang in die tägliche Arbeit findet. Und da hat nicht nur das Gislerprotokoll mitgemischt, sondern auch viele andere Stimmen.

«Dieses Jahr traten Experten und Expertinnen viel öfter gemeinsam auf»

Handelt es sich nicht einfach um eine Momentaufnahme – oder ist es doch der Beginn eines nachhaltigen Wandels in der Schweizer Werbebranche?
Was für mich für einen nachhaltigen Wandel spricht, ist die Tatsache, dass die Stereotype, die verwendet wurden, in vielen Fällen bewusster eingesetzt und öfter auch auf das andere Geschlecht angewendet wurden. Nehmen wir das Beispiel des «Experten». Dieses Jahr traten Experten und Expertinnen viel öfter gemeinsam auf – oder es wurde gleich nur eine Expertin porträtiert. Oder das beliebte weibliche Stereotyp der «Kümmerin»: Auch sie kam dieses Jahr vor, wurde aber von den Kümmerern, also Männern, die sich um den Haushalt oder Kinder kümmern, überholt. Das stimmt mich zuversichtlich, dass ein echtes Bewusstsein entstanden ist, was den Einsatz von Geschlechterstereotypen betrifft.

Sie sprechen in der Medienmitteilung vom «Klischeeknick», der immer häufiger Realität wird. Was verstehen Sie genau darunter und wie äussert sich das konkret?
Für uns ist der Klischeeknick genau das, was ich schon beschrieben haben: Stereotype nicht mehr oder dann bewusster anwenden, aufs andere Geschlecht übertragen oder brechen. Im Fall von Genderstereotypen also zum Beispiel Frauen, die als Expertinnen auftreten, Frauen, die humorvolle Hauptrollen spielen, Männer, die sich um Familie und Haushalt kümmern, oder Männer, die für einen Moment still ein Stück Schokolade geniessen. Dinge, die in der Realität täglich vorkommen, aber bisher in der Werbung nicht im gleichen Mass stattfanden.

Ihre Analyse basiert auf 300 Spots, die 2024 auf persoenlich.com veröffentlicht wurden. Warum haben Sie sich auf diese eine Quelle beschränkt und nicht mehrere Branchenportale berücksichtigt?
Ist das jetzt «Fishing for Compliments» (lacht)? Im Ernst: Die meisten Arbeiten, die von Agenturen oder Kund:innen kommuniziert werden, werden auf allen bekannten Schweizer Branchenmedien publiziert. Die Chance, auf anderen Portalen noch mehr Werbungen zu «finden», ist gering.

Welche Werbekampagne hat Sie 2024 besonders positiv überrascht und warum hat diese den Umgang mit Stereotypen vorbildlich gelöst?
Da gab es dieses Jahr natürlich einige. Die meisten sind ganz unaufgeregte Beispiele. Sehr gut gefallen hat mir zum Beispiel die SBB-Digitalkampagne, in der es um Direktheit geht. Da sieht man die Schauspielerin Esther Gemsch als sehr untypische Grossmutter: Sie findet das Flötenspiel ihrer Enkel «schrecklich», ist also nicht kümmernd, sondern direkt und dabei auf eine trockene Art und Weise lustig.

Oder die Ovo-Time-Kampagne, in der ein Mann genüsslich das Ovo-Schokoladentäfelchen geniesst, die Migros-Playmobil-Kampagne, in der eine Frau Bäckermeisterin ist, der Coop-Spot für den Tag der guten Tat, in dem ausschliesslich sich kümmernde Väter und ihre Kinder gezeigt werden, die UBS-Unternehmertum-Kampagne mit einer Schreinerin oder die humorvolle CKW-Kampagne mit einem Experten und einer Expertin.

Einige dieser Kampagnen stammen übrigens von Agenturen, die nicht beim Gislerprotokoll mit dabei sind. Das zeigt: Die positive Entwicklung ist vor allem Kreativschaffenden zu verdanken, die keine Lust mehr haben auf Klischees. Gislerprotokoll-Mitgliedschaft hin oder her.

Gibt es einen Spot aus dem letzten Jahr, der Sie trotz aller Fortschritte besonders enttäuscht hat? Was wurde dort falsch gemacht?
Natürlich gab es auch 2024 einige Beispiele, die immer noch sehr klischeebehaftet sind. Als Gislerprotokoll haben wir uns aber noch nie als «Mahnfinger» verstanden, der öffentlich aus unserer Sicht nicht so gelungene Werbung anprangert und so Wandel zu erzwingen versucht. Daher werden wir auch nicht damit anfangen. Was man sagen kann: Die Kombination «lustiger Mann, der auch gleich Experte ist und in die Kamera spricht» ist nach wie vor beliebt, und Lebensmittel werden immer noch sehr gerne mit still geniessenden Frauen beworben.

Bei Humor in der Werbung dominieren weiterhin klar die Männer. Nur 2 von 300 Spots zeigen Frauen in humorvollen Rollen. Seit 2021 ist hier kaum eine Veränderung festzustellen. Warum tut sich die Branche gerade mit lustigen Frauenfiguren so schwer?
Hier hören wir oft den Einwand: Es gibt halt auch nicht so viele lustige Frauen. Oder dann die Angst, dass der Eindruck entstehen könnte, man mache sich über Frauen in humorvollen Rollen lustig. Ersteres ist aus unserer Sicht eine zu einfache Ausrede. Es gibt enorm viele Schauspielerinnen, die perfekt humorvolle Rollen spielen. Und auch immer mehr weibliche Comedians. Letzteres ist verständlich, aber ich glaube, da muss man sich einfach trauen. Das Beispiel von Graubünden Tourismus mit der Golf spielenden Frau ist ein super Beispiel: Sie trifft zwar den Ball nicht, nimmt das aber mit Humor und Gelassenheit und spricht souverän in die Kamera.

Seit 2021 ist das beliebteste männliche Stereotyp konstant «That One Funny Guy». Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Dieses Jahr war er es nicht. Vielleicht gab es 2024 einfach nicht so viel zu lachen … Aber es ist schon so: Werbung ist oft witzig, unterhaltend. Das soll unbedingt so bleiben. Nur dürfte manchmal auch eine Frau für den Witz sorgen. Generell würde ich sagen, dass wir so viele «Funny Guys» gesehen haben, ist ein gutes Zeichen: Wir lassen uns gerne unterhalten.

Die Analyse zeigt, dass Expertinnen und Experten inzwischen fast ausgeglichen dargestellt werden. Ist die Tatsache, dass Expertinnen (15 Spots) noch etwas weniger vorkommen als Experten (22 Spots), trotzdem noch problematisch?
Ich sehe das nicht so eng. Der Unterschied ist im Vergleich zu den Vorjahren viel geringer; wir bewegen uns aufeinander zu. Vielleicht überholen die Expertinnen ja nächstes Jahr die Experten, so wie es die «Kümmerer» dieses Jahr gemacht haben.

Ihr «Topfpflanzentest» prüft, ob Frauen oder Minderheiten in rein dekorativen Rollen vorkommen, die durch eine Topfpflanze ersetzt werden könnten. 2024 fiel dieser Test nur noch bei 21 Werbungen negativ aus, während es 2022 noch 70 Spots waren. Was hat zu diesem deutlichen Rückgang beigetragen?
Der Rückgang ist vor allem den Frauen geschuldet. Sie tauchen viel seltener in dekorativen Hintergrundrollen auf. Die wenigen verbliebenen Topfpflanzen sind mittlerweile häufiger Minderheiten. Das heisst also: Dass Frauen nicht unbedingt in dekorative Rollen gehören, scheint angekommen zu sein; dass das auch für andere Minderheiten gilt, noch nicht so sehr.

«Da sehen wir noch viel Aufholbedarf»

Wie bewerten Sie die Repräsentation von genderqueeren Personen mit nur 1 Prozent der Spots, während laut Ipsos-Studie 13 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer zur LGBTQ+-Community gehören?
Da sehen wir noch viel Aufholbedarf, wenn wir mit unserer Werbung die Realität und Gesellschaft widerspiegeln wollen. Dieses eine Prozent, das sind genau zwei Personen in insgesamt 300 Werbungen mit zig verschiedenen Menschen. Da geht noch mehr. Auch hier wieder ganz unaufgeregt, indem Menschen, die nicht in ein binäres Bild passen, mehr Raum eingeräumt wird – idealerweise auch ohne Themenbezug, sprich nicht nur bei Arbeiten, bei denen es per se schon um das Thema sexuelle Identität geht.

Bei nicht-weiss gelesenen Personen stellen Sie fest, dass der Anteil im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken ist, aber mehr qualitative Fortschritte erzielt wurden. Können Sie das näher erläutern?
Ich zitiere hier Anja Glover, die letztes Jahr eine Speakerin an unserem Event dem Gisler-Gipfel war und gegenüber persoenlich.com sagte: «Mehr schwarze Menschen auf Plakaten reichen nicht». Sie meinte damit vor allem, dass Diversity-Themen auch intern in Unternehmen gelebt werden müssen. Die Aussage trifft aber auch auf die qualitative Dimension der Darstellung zu: Wir haben 2024 insgesamt zwar etwas weniger nicht-weisse Menschen in der Werbung gesehen, dafür aber häufiger in Alltagssituationen und auch ohne Promistatus oder Themenbezug, der ihren Auftritt legitimiert.

Die Analyse zeigt, dass ältere Menschen in der Schweizer Werbung als vital und am Leben interessiert porträtiert werden. Warum zeigt die Werbebranche gerade bei dieser Bevölkerungsgruppe ein positives und facettenreiches Bild?
Da kann man nur mutmassen. Vielleicht liegt es daran, dass man häufig familiär bedingt Kontakt zu älteren Personen hat und deren Facettenreichtum so direkt erlebt. Wenn das eigene Grosi an Krypto interessiert ist, finde ich es plausibel, das auch in einer Werbung so darzustellen. Oder auch einfach, weil diese Bevölkerungsgruppe je nach Branche immer noch sehr kaufkräftige Kundschaft ist …

Welche Rolle spielt der Druck von aussen – etwa durch Social-Media-Kritik – beim Rückgang stereotyper Darstellungen?
Für Brands, die viel in den sozialen Medien unterwegs sind, ist das natürlich relevant. Das hängt oft auch damit zusammen, dass sie eine jüngere Zielgruppe haben, die andere Erwartungen an die Kommunikation von Marken hat als vielleicht noch ein paar Generationen vorher. Aber der vermeintliche Druck von aussen kann es den Brands auch erschweren, klischeefreier zu kommunizieren, aus Angst, ihre Zielgruppen zu verärgern. Da bringen wir meistens das Beispiel von der Frau hinter dem Steuer eines Autos: Darüber regt sich in der Schweiz wohl auch eine konservativere Zielgruppe nicht auf und trotzdem hat man ein Klischee gebrochen. Das ist im Übrigen auch unsere Antwort auf den Einwand, dass nicht jeder Brand ein Gen-Z-Publikum hat, das Diversität feiert und erwartet. Das mag ja stimmen, aber trotzdem entbindet das Unternehmen nicht von der Verantwortung, klischeefreier zu kommunizieren.

«Das ist toll und gibt uns mehr Möglichkeiten»

Das Gislerprotokoll ist von 50 Mitgliedern im Jahr 2022 auf mittlerweile über 200 Mitglieder gewachsen. Wie hat sich Ihre Arbeit durch dieses Wachstum verändert?
Ich habe weniger zu tun (lacht). Wir sind ja seit drei Jahren als Verein organisiert inklusive Vereinsvorstand, in dem wir uns Aufgaben teilen können. Das ist toll und gibt uns mehr Möglichkeiten. Jede und jeder hat seine Ämtli, vom Onboarding von neuen Mitgliedern über die Finanzen bis hin zur Kommunikation.

Welche Ziele und Schwerpunkte hat das Gislerprotokoll für die kommenden Jahre?
Wir machen weiter wie bisher, auch wenn oder besser gesagt, genau weil das Klima aktuell eher in eine andere Richtung zu drohen schwenkt. Wir glauben an die Relevanz von klischeefreier, inklusiver Kommunikation – wie auch immer sie im Detail für jedes Unternehmen aussehen mag. Gemeinsam mit unseren vielen tollen Mitgliedern werden wir daher auch weiter konkrete Beratungsangebote anbieten für alle Unternehmen und Entscheider:innen, die sich vertieft zum Beispiel mit inklusiven Bildwelten, inklusiver Sprache oder inklusiven App-Lösungen befassen wollen.


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