12.06.2016

Beau Lotto

«Die besten Technologien machen das Unsichtbare sichtbar»

Der renommierte Neurowissenschaftler Beau Lotto tritt am Mittwoch an der GV der International Advertising Association (IAA) in Zürich auf. Im Interview mit persoenlich.com spricht er über Wahrnehmung, Kreativität und wie sich beides durch die Digitalisierung verändert.
Beau Lotto: «Die besten Technologien machen das Unsichtbare sichtbar»
von Sonja Gambon

Herr Lotto, wenn man so viel über das eigene Gehirn, das Bewusstsein, Wahrnehmung und Illusionen weiss wie Sie, wird das wohl seine Auswirkungen im Alltag zeigen. Mit welcher Einstellung schreiten Sie durchs Leben?
Eine gute Frage. Mut ist sehr wichtig. Natürlich braucht es auch Selbstbewusstsein, aber das ist nicht die Basis des bewussteren Wahrnehmens. Mut ist viel interessanter, und auch ehrlicher. Daher versuche ich Konflikten stets mit aktivem Zweifel gegenüberzutreten.

Wäre es nicht einfacher, all diese Dinge nicht zu wissen?
Klar, es wäre viel einfacher. Aus diesem Grund gibt es Religion. Das Leben ist viel gemütlicher, wenn man sich nicht um die grossen Fragen kümmern muss. Wenn man davon ausgeht, dass all unsere Vorstellungen vom Leben und der Wirklichkeit richtig sind. Studien haben auch gezeigt, dass die glücklichsten Menschen diejenigen sind, die ihre Vorstellungen am wenigsten in Frage stellen. Religionen und Institutionen sind meist entstanden, um uns in diesem «wissenden» Zustand zu halten. Auch Schulen, als ein Beispiel, bringen den Kindern selten bei, Fragen zu stellen – noch weniger, was eine gute Frage wäre.

Was ist Ihre eigene Definition von Wahrnehmung?
Wahrnehmung macht Sinn. In anderen Worten: Alles, dessen wir uns bewusst sind, ist Wahrnehmung. Ob es nun die Farbe einer Blume oder die Idee der Blume selbst ist, der Zustand der Gefühlswelt oder das Konzept des Glücks. Meiner Meinung nach ist jedes Individuum in einem Verhältnis zur Wahrnehmung – sei es sie zu verstehen, sie im eigenen Leben oder in der eigenen Umwelt anzuwenden.

Was fasziniert Sie so daran?
Die Wahrnehmung ist das Fundament von allem, was wir denken, glauben und wissen. Um Wahrnehmung zu verstehen, müssen wir verstehen, was es heisst, Mensch zu sein.Ich will mit meinen Forschungen nicht primär die Wahrnehmung verstehen, sondern deren Prinzipien und was diese für unsichere Situationen bedeuten.

Sie sagen, dass die persönliche Wahrnehmung aus den jeweiligen bisherigen Erfahrungen gründet. Was heisst das für die Kommunikation?
Unser Gehirn wird durch vergangene Interaktionen in der externen und internen Welt geformt. Daraus resultiert dass alles, was wir wahrnehmen, in der Vergangenheit einmal nützlich erschien. So unterscheidet sich unsere Wahrnehmung von dem, wie die Welt wirklich ist.

Aus Ihren Forschungen schlussfolgern Sie, dass wir durch unsere Umwelt geformt werden. Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?
Sie sollte eigentlich keine besondere Rolle spielen, denn die digitale Welt ist Teil unserer Umwelt. Allerdings bieten die digitalen Medien eine enorme Möglichkeit, unseren «Space of Possibility», wie ich es nenne, zu verändern. Die meisten unserer Technologien sind darauf ausgerichtet, den Status Quo noch schneller oder einfacher zu machen. Meiner Meinung nach sind aber nicht diese Technologien die besten – ob digital oder nicht – sondern die, die das Unsichtbare sichtbar machen. Technologien, die es uns ermöglichen, Dinge zu sehen, die wir vorher nicht sehen konnten. Auf diese Weise erweitern sie unseren Bereich des Möglichen.

Unbekannte Dinge und Unsicherheiten scheinen unsere grössten Ängste zu mobilisieren. Wie umgeht der Mensch dies?
Mit dem wissenschaftlichen Konzept «Play with Intention». Unser Gehirn hat sich so entwickelt, dass es bedeutungslose Informationen mit einer Bedeutung versetzt. Unsere Entwicklung will also Sicherheit und meidet das Unbekannte. Doch weil sich die Welt verändert, müssen wir manchmal den Schritt aus der Komfortzone wagen. Hier werden wir mit dem Problem konfrontiert, dass wir diese Zone so gut es geht vermeiden, da die Evolution uns gelehrt hat, dass das Unbekannte uns umbringen kann. Dennoch gibt es Kontexte, in denen Unsicherheit etwas Gutes ist – einer davon ist die Wissenschaft.

In einer Keynote (siehe Video) sprechen Sie über Kreativität. Inwiefern beeinflusst Unsicherheit die Macht des Kreativen?
Sobald man die Komfortzone des Sicheren verlässt, beginnt die Kreativität. Genauer gesagt, beginnt sie damit, wenn man die Möglichkeit zulässt, einen Geisteszustand zu erlangen, der in die Unsicherheit mündet.

Ihr Fazit in dem Vortrag lautet: «Das Herz der Kreativität ist die Möglichkeit, Dinge anders zu sehen». Wie verstehen Sie dieses «anders»?
Man muss die Dinge anders sehen, als man sie zuvor gesehen hat. Anders sehen bedeutet einen Perspektivenwechsel, Fragen zu stellen, die man sich vorher nie getraut hat zu fragen, und das Warum zu verstehen. Verstehen wiederum kümmert sich im Gegensatz zur Intelligenz um die Antwort auf das Warum, nicht das Wer, Was oder Wann. Wir haben also die Möglichkeit, auf dieselbe Information unterschiedlich zu reagieren.

Wie kann sich die Werbeindustrie dieses Wissen zunutze machen?
Für die Werbung ist das Wahrnehmungsforschung insofern relevant, als dass sie diese in ihrer Arbeit anwenden und Räume kreieren kann, die es den Menschen ermöglicht, Dinge anders zu sehen.

Gibt es denn eine «Realität»?
Es gibt eine Welt. Nur sehen wir sie nicht als «diese Welt». Die Perspektive, die ich vorschlage, ich keine post-moderne relativistische Sicht. Das wäre inkonsequent mit der Biologie und insbesondere der Evolutionstheorie. Wären alle Dinge gleichwertig, hätte es keine Evolution geben können. Es ist nun mal so, dass einige Dinge besser sind als andere. Weiter lässt sich aber auch sagen, dass nur wenige Dinge von sich aus wahr sind, und erst durch einen bestimmten Kontext als wahr erscheinen. So können sie auch wieder an Wahrheitsgehalt verlieren, wenn der Kontext ändert. Diese kontextuelle Natur von Wissen zu begreifen, ist das Fundament zur Erkennung des Verstehens.

Sie werden am Mittwoch, 15. Juni, in der Schweiz an der IAA-Generalversammlung sprechen. Welche Botschaftwollen Sie den Fachkräften mitgeben?
Die meisten Fragen sind dürftig formuliert. Fragt nach dem Warum, und macht es dort, wo die Menschen leben.


Dr. Beau Lotto ist Professor für Neurowissenschaft und Spezialist für die Biologie und Psychologie der Wahrnehmung – die Kernvoraussetzung für Komplexität, Wohlbefinden und Innovation. Er wird am Trendbrunch im Rahmen der IAA-Generalversammlung am Mittwoch, 15. Juni in Zürich referieren.



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